Von Uwe Kraus
Eine Science-Fiction-Serie im niederländischen TV floppte, ein zweites derartiges Experiment wollte man sich nicht leisten. Die sechs Teile, die Shirley Gast geschrieben hatte, wurden deshalb nicht produziert. Die Drehbuchautorin beschloss, den Stoff umzuschreiben und ein Theaterstück draus zu machen, das den Umgang mit Social Media, künstlicher Intelligenz und den Drang nach Selbst-Optimierung thematisiert. „Wieviel von meiner Persönlichkeit gebe ich in einer für unzählige Nutzer offenen virtuellen Welt preis? Wie verhalte ich mich in einer vom ständigen Streben nach mehr geprägten Arbeitswelt?“, formuliert sie ihre Fragen an das Jetzt und an die Zukunft.

Dass ihr Jugendstück „GeminEye“ nun ausgerechnet am Harztheater seine Uraufführung erlebt, verdankt Shirley Gast mindestens 70 Menschen. „So viele haben das Crowdfunding der Theater-Fördervereine aus Halberstadt und Quedlinburg unterstützt. Insgesamt kamen 6000 Euro zusammen, so dass wir den Schreibauftrag an Shirley Gast vergeben und die Uraufführung realisieren konnten“, sagt Katja Stützer, die sich im Förderverein engagiert und inzwischen für das Harztheater auch hauptberuflich Pressearbeit macht.
„Die Welt ist häßlich genug“, konstatiert Shirley Gast. „Genau dort setzt meine Geschichte an“, hebt sie zu einer Erklärung des schwer Erklärbaren an. Sie entwickelte für ihr Stück ein Zukunftsszenario, das die Wahrnehmung der Welt verändert: Für die Verschönerung des Daseins gibt es Kontaktlinsen, auf die sich per App Bilder einspielen lassen. Man steht dank „GeminEye“ plötzlich im Urwald, in der Wiener Secession oder auf der Bühne eines Pop-Konzerts. Die Linsen können Filme aufnehmen und speichern, die die Fan-Gemeinde verbinden.
„Wir wollen nicht zu viel spoilern“, wirft die Gast-Autorin ein, als die drei Darsteller Swantje Fischer, Luisa Jäger und Eric Eisenach, Regisseurin Rosmarie Vogtenhuber-Freitag und Ausstatterin Bianca Fladerer bei der ersten Konzeptionsprobe am Tisch zusammensitzen. Sie verrät nur so viel: Mia und Lena sind beste Freundinnen, die alles teilen. Auch den Wunsch, schön, reich und berühmt zu werden. Als sich ihnen die Möglichkeit bietet, bei „GeminEye“ als Influencerinnen einzusteigen und zum Gesicht der Plattform zu werden, ist ihre Euphorie groß. Denn „GeminEye“ verspricht ein völlig neues Lebensgefühl. Mittels der programmierbaren Kontaktlinsen kann sich jeder seine Traumwelt erschaffen, ja, die Welt verbessern. Denken sie. Aber der Mädchentraum mutiert rasch zum Albtraum. Hinter der smarten Fassade des Konzerns verbergen sich knallharte Interessen. Bald ist klar, hier herrschen andere Gesetze.
„Wer ist echt? Wer ist ein Hologramm?”
Swantje Fischer und Luisa Jäger spielen die Influencerinnen Mia und Lena; sie werden schlagartig berühmt. Eric Eisenach gibt den gut bezahlten Tech-Bro Niko, den coolen Techniker, der die Filter für den Blick in die schöne Welt programmiert. „Für den ist das so absolut geil. Das gleicht der Entwicklung der Dampfmaschine in der Technik-Urzeit. Plötzlich machen ganz normale Jugendliche Karriere, werden CEO, stehen da als Typen vom Kaliber Mark Zuckerberg. Ihnen gehört der Laden, sie haben das letzte Wort“, blickt Shirley Gast, die in der niederländischen Stadt Groningen lebt, auf ihre Charaktere.
Die Autorin verweist auf den Zwiespalt, den technische Entwicklungen mit sich bringen. „Mit den Erfindungen kann man Schaden anrichten, aber sie können auch Nutzen bringen und Menschen helfen, etwa wenn Technik Prothesen steuert. Immer brennender stellt sich die Frage, ob auch genutzt werden soll, was technisch machbar ist. Müssen wir wirklich alle Möglichkeiten ausschöpfen? Plötzlich sind unsere Heldinnen wahnsinnig aufgeregt, spüren aber intuitiv, dass die Welt für sie finsterer wird. Die Freundschaft der Beiden geht baden.“
Was den Kern ihres Erzählens ausmacht? Die Autorin fragt die Zuschauer, was echte Freundschaft, ganz ohne KI, heute bedeutet. „Da fragen wir uns doch, agieren wir mit echten Menschen, oder warum werden aus drei Mitspielern plötzlich vier? Wer ist echt, wer ein neu geschaffenes Hologramm?“
Gast spricht mit den Schauspielern und Schauspielerinnen, die ihr Stück aufführen werden, über ihre eigenen Social-Media-Erfahrungen. „Differenzen werden auf andere Weise ausgetragen, wenn man nicht miteinander spricht, sondern über Textnachrichten kommuniziert. Jede kleine Meinungsverschiedenheit schaukelt sich zum Problem hoch.“ Sie selbst habe erlebt, dass verschiedene Standpunkte zu Trumps Präsidentschaft zu vier Jahren Funkstille zwischen ihr und ihrer Cousine in den USA führten. „Ich bin in die USA geflogen, weil mir es mir ein großes Anliegen war, das zu klären. Wir haben uns an einen Tisch gesetzt und alles analog besprochen. Ein gutes Gefühl.“
Das Team um Regisseurin Rosmarie Vogtenhuber-Freitag begreift es als Herausforderung, analog von einer hochtechnisierten Welt zu erzählen. „Und plötzlich sehe ich eines Tages Hologramme statt Mitspieler?“, fragt Swantje Fischer. Ausstatterin Bianca Fladerer wird die Bühne bei „GeminEye“ mit vielen Projektionen und Videoinstallationen füllen, doch sie kann beruhigen: „Bei mir bleiben echte Menschen im Fokus, nicht digitale Frankensteins und Hologramme.“