Wenn Heidi Godulla heute am Klavier sitzt und mit sicherem Takt den Einsatz gibt, würde niemand vermuten, dass ihre musikalische Karriere vergleichsweise spät begann – und ganz und gar ungeplant. Mit 76 Jahren verabschiedet sich die langjährige Chorleiterin von „Cantare“ nun in den Ruhestand – zumindest vom Dirigieren. Denn das Singen, das bleibt.
Von Jörg Loose
Geboren nahe Wurzen in Sachsen, führte Heidi Godullas Weg zunächst nicht auf die Bühne, sondern ins Büro: Die Ausbildung zur Wirtschaftskauffrau ergänzte sie später mit einem Studium der Betriebswirtschaft. Es folgten Stationen bei den Arbeitsämtern in Halle und Halberstadt. Musik? Die war in ihrer Jugend eher Begleitung als Berufung: ein bisschen Blockflöte, etwas Klavier mit dem Vater, der in der Band „Die weißen Raben“ die Tasten drückte, und gemeinsames Singen mit der Mutter. Mehr nicht.
Doch das Leben hat seine eigenen Taktarten. Über ihre Stieftochter kam sie zum Frauenchor Wegeleben, später auch zur Halberstädter Kantorei. Gesang faszinierte sie mehr und mehr. Besonders die Kantoren Klaus-Jürgen Teutschbein und Claus-Erhard Heinrich sowie Chorleiterin Gabriele Herbst prägten sie nachhaltig. „Das wollte ich auch probieren“, berichtet sie heute.
Was danach kam, war eine persönliche Erfolgsgeschichte mit vielen Stimmen. Als der Wegelebener Frauenchor eine Vertretung für Gabriele Herbst suchte, ergriff Heidi Godulla die Chance. Nach einer fundierten Ausbildung im Kloster Michaelstein – drei Jahre lang, organisiert durch den Landesmusikrat, mit Gehörbildung, Musiktheorie, Klavierunterricht und praktischen Prüfungen – schaute sie erstmals als Chorleiterin in die gespannten, erwartungsvollen Augen ihrer bisherigen Sangesschwestern.
Parallel zur Kantorei Halberstadt, der sie bis heute als Sängerin fest verbunden ist, folgten zahlreiche weitere Stationen: mit dem Männerchor Anderbeck, dem gemischten Chor in Hoym und dem Frauenchor Aspenstedt sammelte sie Erfahrungen im Umgang mit Menschen und Musik. Dann folgte mit dem Frauenchor „Cantare“ ihr Herzensprojekt. Hier konnte sie endlich eigene musikalische Vorstellungen mit Elan und Freude umsetzen.
„Cantare“ begann 2009 als kleine Singrunde mit fünf Frauen. Doch es sprach sich herum – der kleine Singekreis bekam immer mehr Zuwachs. Bald war ein richtiger Chor daraus geworden. Heute ist es ein eingetragener Verein mit 32 Mitgliedern, viele davon mit musikalischer Vorbildung. „Als reiner Frauenchor war ,Cantare’ nicht geplant“, erzählt die Chorleiterin und fährt fort: „Aber es fanden sich einfach keine sangesfreudigen Männer – und so machten wir aus der Not eine Tugend.“
Wer einfach nur trällern will, der ist bei uns falsch.
Das Repertoire, das sie für „Cantare“ auswählte, war nie beliebig. „Mehrstimmigkeit ist bei uns Pflicht“, resümiert sie lächelnd. Die Liedauswahl ist anspruchsvoll, vielfältig, international – und sie wechselt ständig. Jedes Jahr kommen neue Stücke hinzu. Gesungen wird vorwiegend auf Deutsch, aber auch auf Englisch, Französisch, Schwedisch und Latein. Geistliche Werke stehen neben Volksliedern, klassische Arrangements neben modernen, oft auch internationalen Chorsätzen. Ein Schwerpunkt liegt auf mehrstimmigen A-cappella-Stücken, manchmal begleitet vom Klavier – nicht selten von ihrem Enkel Samuel, einem jungen, hochtalentierten Musiker, den sie liebevoll fördert. Hier wird nichts heruntergesungen. Hier wird gestaltet, geübt, gefeilt – bis es sitzt. „Wer einfach nur trällern will, der ist bei uns falsch“, verkündet die Dirigentin schmunzelnd mit erhobenem Zeigefinger.
„Die Frauen wollen gefordert werden – und das fordere ich auch ein“, sagt sie. Ihre Proben beschreibt sie als konzentriert und straff, aber mit einem Augenzwinkern. „Chorleitung ist ein bisschen Diktatur“, sagt sie lachend. „Man diktiert dem Chor eben seine Vorstellung vom Klang.“ Und doch herrsche kein Untertanengeist, sondern gegenseitiger Respekt. Nach der Probe wird gelacht, gefeiert, manchmal Sekt getrunken – etwa wenn jemand Geburtstag hat. Da gibt es dann ein Glas, vielleicht ein kleines Ständchen, und dann geht es weiter. Maximal eine Viertelstunde, denn auch an solchen Abenden hängt sie hinten noch eine Runde Probe dran. Disziplin und Lebensfreude gehen hier Hand in Hand.
Einstimmung auf die Chorprobe mit Lockerungsübungen für Stimme, Körper und Seele.
Ein Chor ist für sie nie nur eine musikalische Gruppe gewesen, sondern immer auch eine Gemeinschaft. Das zeigt sich bei den wöchentlichen Proben ebenso wie bei den Sommerfesten, gemeinsamen Bus- oder kleinen Konzertreisen, etwa in ihren Heimatort Böhlitz im Landkreis Wurzen, wo die Sängerinnen nicht nur für ein volles Kirchenschiff sorgten, sondern auch für volle Herzen – bei sich selbst und beim Publikum.
Schon 2020, mit runden 70 Jahren, hatte sie eigentlich ihren Abschied geplant. Eine Nachfolgerin übernahm, doch familiäre Gründe zerschlugen die erhoffte Übergabe des Dirigentenstabes. So sprang Heidi Godulla ein, und was als Übergang gedacht war, wurde erneut zur Dauerlösung. „Solange es mir Freude macht, mache ich weiter“, sagte sie sich – bis sie nun, mit 76 Jahren, den Staffelstab wirklich weiterreicht. Der neue Chorleiter Klaus Vöhl wurde bereits sorgsam eingearbeitet, probt schon Teile des Repertoires und übernimmt zum Jahreswechsel 2025/26 ganz. Sie selbst bleibt dem Chor als Sängerin erhalten. „Solange die Stimme trägt – und die Beine es noch auf die Bühne schaffen“, wie sie sagt.
Was sie sich für die Zukunft wünscht? „Dass das, was ich aufgebaut habe, weiterlebt!“ Der neue Chorleiter soll seinen eigenen Weg gehen, aber vielleicht das eine oder andere Element bewahren: das Miteinander, die musikalische Qualität, den Respekt, das Lachen. Was bleibt, ist nicht nur der Klang des Chores. Was bleibt, ist die Idee, dass Musik verbindet und Menschen gemeinsam mehrstimmig singen können – wenn jemand sie zusammenführt. Mit Taktgefühl und Temperament.