Ich bin ruhelos und hibbelig, stehe immer unter Strom. Eigentlich müsste ich mal eine Pause machen. Ich weiß, dass die Hörstürze, die ich hatte, ein Alarmzeichen sind. Aber ich kann mir keine Auszeit nehmen, denn mein Mann braucht meine Hilfe. Ich kann und will ihn nicht über längere Zeit allein zu Hause lassen. Egal, wohin ich gehe, ich bin in Eile und habe ein schlechtes Gewissen, dass er allein zu Hause sitzt.
Wir sind seit unserer Jugend zusammen. Ich war 16, als ich Wulf bei der Arbeit kennengelernt habe. Wir waren beide beim VEB Polyplast: Er machte eine Ausbildung zum Werkzeugmacher, ich zur Industriekauffrau. Als ich 19 war, starb meine Mutter. Sie war eine ausgesprochen resolute Frau. Sie hatte als Köchin gearbeitet, bevor sie meinen Vater heiratete und er ihr sagte, dass sie nicht mehr arbeiten soll. So war das damals. Dabei hatte meine Mutter so viel Energie, sie war ein Organisationstalent. Wahrscheinlich habe ich das von ihr. Sie brachte es fertig, ein Kinderfest für die ganze Siedlung zu veranstalten. Das war so herrlich, dass sich die Kinder von damals noch Jahrzehnte später, als sie längst erwachsen waren, daran erinnerten und davon erzählten.
Meine Mutter ließ mir alle Freiheiten und sorgte dafür, dass ich sehr behütet aufwachsen konnte. Als sie starb, begriff ich, dass ich all das, was sie im Haushalt getan hatte, gar nicht konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie dieser Waschkessel funktionierte oder wie ich für meinen Vater und mich etwas zu essen kochen sollte. Wir standen plötzlich allein da: mein Vater, ich und Wulf. Einige Zeit wohnten wir zu dritt im Haus und ich saß oft zwischen den Stühlen, denn ich wollte es beiden recht machen. Die Männer waren dickköpfig. Das ging so weit, dass der im Garten die Blumen wieder ausbuddelte, die der andere gepflanzt hatte. Auf Dauer wäre das nicht gut gegangen. Mein Vater lernte bald eine neue Frau kennen und zog aus.
Als ich 1968 schwanger war, heirateten Wulf und ich. Ein Kind zu bekommen ohne Trauschein, das gehörte sich zu jener Zeit nicht. In den ersten Monaten mit unserem Sohn Dirk vermisste ich meine Mutter sehr. Sie hätte mir zeigen können, wie man mit einem Baby umgeht. Ich fühlte mich manchmal hilflos. Mit der Zeit wurde ich sicherer, man wächst in seine Aufgaben hinein. Das habe ich in meinem Leben immer wieder festgestellt.
Wenn dein Körper nicht mehr mitmacht, du auf Hilfe angewiesen bist, ist Altwerden schrecklich.
Als Dirk ein Jahr alt war und einen Krippenplatz hatte, habe ich wieder bei Polyplast gearbeitet. Eigentlich war ich in der Buchhaltung und Lohnbuchhaltung eingesetzt, dann sind aus einer 14-tägigen Vertretung als Sachbearbeiterin in der Produktionsleitung aber mehrere Jahrzehnte geworden. Unser Betrieb hat damals Plaste-Erzeugnisse für den Haushalt hergestellt, zum Beispiel Butterdosen, Seifenhalter, Tabletts, aber auch einige Medizinprodukte.
Nach der Wende informierte man uns, dass sehr viele Leute entlassen werden sollten. Ich habe ich mich freiwillig gemeldet. Ich wusste, ich kriege auch in einem anderen Betrieb Arbeit. Mein Mann konnte bleiben, so behielt zumindest einer von uns die Stelle. Ich fing als Verwaltungsangestellte bei der Kriminalpolizei an und habe dann viele Jahre in der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber (ZASt) gearbeitet. Mit einem Kollegen kümmerte ich mich um die erkennungsdienstliche Registrierung der Asylbewerber. Mit 55 bin ich in Altersteilzeit und mit 57 in Rente geschickt worden. Ich fand das viel zu früh. In dem Alter willst du doch nicht irgendwo untätig herumsitzen. Mein Glück war, dass ich mich um meine Enkeltochter kümmern konnte. Sie ist mein Sonnenschein.
Inzwischen ist sie erwachsen, und ich bin froh, dass wir noch immer so ein gutes Verhältnis haben. Das gilt auch für unseren Sohn. Wenn Dirk nicht wäre, könnten Wulf und ich unser Haus und unseren Garten gar nicht mehr halten. Er kommt und hilft, und auch unsere Nachbarn sind zur Stelle, wenn ich frage.
Mein Mann hatte mehrere Schlaganfälle, ist halbseitig gelähmt, ein Bein wurde amputiert. Er hat die höchste Pflegestufe, und ich kümmere mich um ihn. Wenn ich von unserem Alltag erzähle, fragen mich meine Freundinnen, warum er nicht ins Pflegeheim zieht. Aber so einfach ist das nicht. Wer will denn schon in ein Heim? Außerdem wäre der Eigenanteil für einen Platz so groß, dass unsere Rente nicht ausreicht. Wir müssten also das Haus verkaufen, in dem ich seit meiner Geburt lebe – seit 77 Jahren. Da ziehst du nicht so einfach aus. Ich hänge an dem Haus. So lange ich es schaffe, bleiben wir hier.
Wie lange ich die Kraft habe, das alles zu bewältigen, weiß ich nicht. Was ist, wenn ich selbst mal krank werde? Daran denke ich besser gar nicht erst. Eigentlich lebe ich nur von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Manchmal bin ich so erschöpft, dass ich abends da sitze und heule. Froh bin ich darüber, dass Wulf noch klar im Kopf ist und wir uns unterhalten können. Mir tut es leid, dass er gar nicht mehr raus kommt, nichts mehr unternehmen und erleben kann. Wenn dein Körper nicht mehr mitmacht, du auf Hilfe angewiesen bist, ist Altwerden schrecklich. Da gibt’s nichts zu beschönigen.
Was mich aufmuntert, sind die guten Momente mit ihm und mit der Familie – und die Nachmittage, an denen ich unterwegs bin. Mal verabrede ich mich mit Freundinnen zum Kaffeetrinken, mal zum Tanzen im Heinebräu oder zum Singen im Chor der Nichtsänger. Doch bei allem, was ich tue, bin ich nie zu hundert Prozent dabei. Immer steckt im Hinterkopf die Sorge, ob zu Hause alles in Ordnung ist.“