Martini - das optimistische Halberstadt-Magazin

„Ich will Vorbild sein“

Abdul Qaderi kam als Jugendlicher aus Afghanistan nach Deutschland – ohne Eltern, ohne Sprachkenntnisse, stattdessen mit Heimweh und Hoffnung. Heute arbeitet er als Erzieher in einer Halberstädter Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Dort ist er Teil eines Teams, das junge Menschen nach ihrer Ankunft im fremden Land betreut.

Von Dana Toschner

Abdul Qaderi erinnert sich noch gut an seine ersten Schultage in Halberstadt. „Ich habe überhaupt nichts verstanden und hatte ständig Kopfschmerzen“, sagt er. Als er die neunte Klasse an der Walter-Gemm-Schule zum ersten Mal besuchte, blieb ihm der Stoff ein Rätsel, beim zweiten Mal merkte er allerdings, dass er zusehends besser zurechtkam. Die Kopfschmerzen waren Geschichte, er schaffte es in die zehnte Klasse und bekam den Realschulabschluss. 

Heute verbringt er die Nachmittage wieder mit Hausaufgaben – allerdings sind es nicht mehr seine eigenen, sondern die seiner Schützlinge. Denn Abdul Qaderi ist inzwischen ausgebildeter Erzieher. Er arbeitet in einer Wohngruppe und kümmert sich um junge Geflüchtete, die jetzt in der Situation sind, die er vor neun Jahren selbst erlebt hat. „Ich möchte ihnen ein Vorbild sein“, sagt er. „Ich erzähle ihnen meine Geschichte. Dann verstehen sie, dass es kein Traum bleiben muss, in Deutschland eine Ausbildung zu machen und eine Arbeit zu finden. Aber sie müssen auch begreifen, dass dir nichts geschenkt wird. Du musst es wollen, und du musst selber etwas tun.“ 

Während Abdul seinen Weg schildert, sitzt er im Büro seines Arbeitgebers BVIK gGmbH, der in der Halberstädter Finckestraße mehrere Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus angemietet hat, um dort ein Jugendcamp unterzubringen. Abdul schaut auf die Pinnwand, an der eine Liste mit 20 Fotos und Namen hängt – eine Übersicht jener Bewohner, die gerade in der Einrichtung leben. Sie kommen aus Gambia, Syrien, Kamerun, Guinea, Indien, Somalia und Mali, sprechen so gut wie kein Deutsch und sind allesamt ohne ihre Familie geflüchtet. Jeweils zu zweit oder zu dritt teilen sie sich ein Zimmer. Der Jüngste unter ihnen ist 13 Jahre alt und darf nur dank einer Ausnahmegenehmigung in der Wohngruppe leben, die eigentlich für 14- bis 18-Jährige gedacht ist. 

„Wer 18 wird, zieht aus und wohnt dann zunächst erstmal in der ZASt. Manche wollen gehen, bei anderen gibt es herzzerreißende Szenen“, sagt Edda Breiting. Die 70-Jährige ist Einrichtungsleiterin und zugleich eine Art mütterlicher Dreh- und Angelpunkt des Hauses. „In der Jugendhilfe nennt man die Jungs meist kurz ,Umas’, das steht für unbegleitete minderjährige Asylbewerber“, erklärt sie. „Die rechtliche Lage ist so, dass Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern nach Deutschland kommen, zunächst durch das Jugendamt in Obhut genommen werden. Die Mitarbeiter dort bringen sie dann in einer Einrichtung wie unserer unter und bestellen einen Vormund.“ 

Der Vormund hilft bei gesundheitlichen Problemen, steht als Ansprech­partner für Schule oder Ausbildungs­betrieb zur Verfügung und kümmert sich um den recht­lichen Aufenthalts­status, beispiels­weise das Asyl­verfahren. Aufgabe der Wohngruppe sei es, den Jugendlichen ein Dach über dem Kopf zu geben, sie mit Essen zu versorgen, auf einem Stück ihres Lebenswegs zu begleiten und bei der Integration zu unterstützen. „Wir sind eine Familie, zumindest eine gewisse Zeit lang“, sagt Edda Breiting. „Wir sind 24/7 für unsere Jungs da, sichern also an sieben Tagen die Woche rund um die Uhr eine Betreuung ab. Natürlich erzählen die meisten, wenn sie Vertrauen gefasst haben, irgendwann auch die Geschichte ihrer Herkunft und ihrer Flucht. Da muss ich manches Mal schlucken. Es gibt mitunter schwere körperliche Schäden, die Folge von Übergriffen oder Misshandlungen sind. Ein Geschwisterpaar, das ich kennengelernt habe, hatte wochenlang allein im Wald gelebt und sich nur von dem ernährt, was dort wuchs.“ 

Wenn du nicht bereits bist, die Sprache zu lernen, dann wirst du nichts erreichen.

Abdul Qaderi hatte es vergleichsweise leicht, sagt er. Er verließ seine Heimat Kabul 2016 zusammen mit seinem Bruder. Sie flogen erst von Afghanistan in den Iran und schafften es dann über die Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Deutschland. „Unsere Eltern wollten, dass wir in Sicherheit sind, weil mein Vater als Dolmetscher für die Nato arbeitete und von den Taliban bedroht wurde“, sagt er. Was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen, sei ihm damals gar nicht bewusst gewesen. „Ich habe darüber nicht nachgedacht. Erst als wir schon in Deutschland waren, begann ich, alle zu vermissen.“  

Weil die Einrichtungen für Jugendliche damals wegen des enormen Flüchtlingszustroms überfüllt waren, verbrachte er mit seinem Bruder die ersten Monate in der ZASt und teilte sich mit ihm ein Zimmer im Wohncontainer. „Es gab dort damals viele andere junge Afghanen. Wir haben Fußball gespielt und hatten keine Langeweile. Das war eigentlich ganz gut, weil wir uns nicht einsam fühlten.“ 

Als Abdul schließlich doch einen Platz in einer Wohngruppe in Halberstadt bekam und zur Schule ging, setzte er alles daran, die Sprache zu lernen. „Deutsch ist dein Schlüssel für alles“, findet er. „Wenn du nicht bereits bist, die Sprache zu lernen, dann wirst du nichts erreichen. Ich hatte mir das auch leichter vorgestellt. Aber niemand nimmt deine Hand, du musst die Initiative ergreifen.“ 

Er selbst sah in seinen Erziehern damals Vorbilder. „Ich will so sein wie ihr, habe ich zu ihnen gesagt. Das war wirklich mein großes Ziel. Jetzt bin ich einfach nur stolz, dass ich es geschafft habe.“ Er übt mit den Jugendlichen Deutsch, begleitet sie zum Arzt, fährt mit ihnen einkaufen, hilft an den Wochenenden beim Kochen, erklärt die Mathe-Hausaufgaben, ermahnt sie, das Zimmer aufzuräumen und ist Ansprechpartner, wenn es Schwierigkeiten gibt. „Ich glaube, sie sehen in mir keinen Vater, aber vielleicht einen älteren Bruder.“ 

Seine richtige Familie ist heute in Europa verstreut: Die Schwester wohnt in Darmstadt, ein Bruder in London und die Eltern in Dänemark. Sie wurden aus Kabul ausgeflogen als im Sommer 2021 die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen. Nur der Bruder, mit dem er geflüchtet ist, lebt noch immer in Halberstadt und hat inzwischen eine eigene kleine Familie gegründet. 

„Wir sind jetzt fast zehn Jahre hier, Deutschland ist unsere Heimat“, sagt Abdul, der seit Februar auch ganz offiziell deutscher Staatsbürger ist. „Das ist mir wichtig, damit ich wählen und mit entscheiden kann.“ Seine Chefin Edda Breiting hat ihm einen Gartenzwerg zur Einbürgerung geschenkt. „Nun hat er etwas sehr Deutsches zu Hause“, sagt sie lachend. 

Ob Abdul Rassismus erlebt? „Ich habe mich daran gewöhnt“, sagt er schulterzuckend. „Wenn ich in ein Geschäft gehe, werde ich beobachtet, weil die Mitarbeiter vermuten, dass ich klauen will. Ich bin kein Dieb und versuche, die Blicke zu ignorieren. Vielleicht wäre das in einer Großstadt anders? Ich weiß nicht, ob Sachsen-Anhalt ein guter Ort für mich ist.“ 

Vorerst allerdings möchte Abdul bleiben. Nach dem Schulabschluss und der Ausbildung zum Kinderpfleger hat er einen Vollzeitjob und ist am Ziel seiner Träume. „Alles, was ich jetzt möchte, ist den Jugendlichen ein gutesVorbild zu sein – so wie es meine Erzieher für mich waren.“