Martini - das optimistische Halberstadt-Magazin

„Ich sage einfach Danke“

Der Halberstädter Roland Steinke hat in den zurückliegenden Jahrzehnten ein Unternehmen aufgebaut und eine große Familie geprägt. Heute, mit wachem Blick, immer neuen Ideen und ungebrochener Schaffenslust, arbeitet er an Holzskulpturen, tüftelt am Rollstuhl der Zukunft und schaut dankbar zurück. In unserer Reihe „Späte Jahre“ erzählt der 82-Jährige aus seinem Leben.

Von Dana Toschner

Ob ich nochmal jung sein möchte? Nein! Das Leben lässt sich so, wie es war, ja nicht wiederholen. Ich habe meine Kindheit und Jugend auf dem Dorf verbracht, wo wir viele Freiheiten hatten. Die Erinnerungen daran möchte ich nicht missen. Du musstest nur aus dem Haus gehen und hattest immer genug Kinder, um zwei Völkerball-Mannschaften zu bilden. Da brauchte man nichts zu organisieren, die waren einfach da.

In unserer Dorfschule ging es allerdings streng zu: Wer nicht spurte, musste zur Strafe in einer Ecke des Klassenzimmers auf Erbsen knien. Ich selbst wurde nicht dazu verdonnert, soweit ich mich erinnere. Ich war ein unauffälliges Kind, nicht aufmüpfig und oft krank. 

Meine Familie stammt aus Schlesien. Als ich geboren wurde, lebten wir in einem Dorf in der Nähe von Breslau und hatten einen eigenen Hof. Mein Vater fiel im November 1944 in Frankreich. Ich habe keine Erinnerungen an ihn. Im Januar 1945 musste meine Mutter mit uns Kindern die Heimat verlassen. Wir flüchteten und nahmen die kranke Großmutter auf dem Pferdewagen mit. Gestrandet sind wir in Alikendorf bei Hadmersleben.

Meine Mutter war sehr liebevoll. Wir konnten ihr immer das Herz ausschütten, und ich erinnere mich, dass auch Frauen aus dem Dorf kamen, um mit ihr zu sprechen. Sie hatte schwere Schicksalsschläge hinter sich – mein älterer Bruder war im Alter von 5 Jahren an Diphterie gestorben, sie hatte den Verlust ihres Mannes und des Hofes zu verkraften. Vielleicht brachte sie den Leuten deshalb so viel Mitgefühl entgegen und verstand deren Sorgen und Nöte. Sie lebte nach der Maxime: Lieber Unrecht leiden als Unrecht tun.

Das hat sie mir mit auf den Weg gegeben. Ich aber war nicht immer bereit, die Dinge, die ich als falsch oder unrecht empfand, hinzunehmen. Manches Mal habe ich meinem Gegenüber die Stirn geboten, obwohl der andere ganz offensichtlich am längeren Hebel saß. Während meines Studiums in Magdeburg widersprach ich zum Beispiel einem Dozenten, der mir danach eine Fünf nach der anderen gab. Ich war in der katholischen Studentengemeinde aktiv und stand zu meiner Überzeugung. In der DDR war das nicht gern gesehen.

Das vielleicht Wichtigste, was mir meine Mutter mitgegeben hat, ist der Glaube. Als ich 18 wurde, habe ich mich bei ihr dafür bedankt. Der Glaube hat mein Leben froh gemacht. Wir waren in der Gemeinde keine trüben Tassen. Für mich galt: Die Katholen können über sich selber lachen, die Kommunisten haben damit ein Problem.

Meine Rolle hat sich geändert: Früher hatte ich das Sagen, heute gebe ich Ratschläge.

Nach der Elektromechaniker-Lehre und dem Studium der Elektrotechnik arbeitete ich in einer Werkzeugmaschinenfabrik und später beim VEB Dampferzeugerbau Berlin, der in Halberstadt und Magdeburg Betriebe hatte. Wir waren für den Bau und die Instandhaltung von Energieanlagen für die Wärmeversorgung zuständig, aber konnten Anfang der 1980er nicht mehr arbeiten, wie wir wollten. Ich war zunehmend unzufrieden, weil das so keinen Sinn mehr machte. Es fehlte wegen der Ölkrise zum Beispiel an Benzin, um zu den Einsatzorten zu fahren.

In dieser Zeit suchte ich nach einer Idee, mit der ich mich selbstständig machen konnte, und fand sie: Am 12. November 1984 eröffnete ich im Keller, der zu unserer Mietwohnung in der Richard-Wagner-Straße gehörte, meine eigene kleine Werkstatt für die Reparatur von Elektrorollstühlen. Dass daraus nach der Wende ein so großes Sanitätshaus entstehen würde, war für mich in den kühnsten Träumen nicht vorstellbar. Und ich weiß: Ohne die Großfamilie wäre es nie geworden, was es heute ist. 

Aus einem Ein-Mann-Betrieb wuchs ein Unternehmen mit inzwischen 140 Mitarbeitenden. Das ist fast nicht zu begreifen. Mit tiefster Dankbarkeit erfüllt mich, dass unser Sohn Tobias und unser Neffe Christoph das Unternehmen als Geschäftsführer leiten und auch die Töchter und Schwiegertöchter mitarbeiten.

Als ich 68 war, habe ich die Firma in ihre Hände gelegt – ein Abnabelungsprozess, der nicht einfach war. Meine Rolle hat sich geändert: Früher hatte ich das Sagen, heute gebe ich als Außenstehender Ratschläge, wenn die Kinder es wünschen. Zu sehen, dass die nächste Generation Freude daran hat, meine Arbeit fortzusetzen, macht mir den Abschied leichter.

Mit dem Altwerden habe ich mich arrangiert. Es ist Gnade und Last zugleich. Ich bin dem Schöpfer dankbar, dass ich mich noch kratzen kann, wo’s gerade juckt. Ich kann mit wachem Verstand verfolgen, was in der Welt geschieht – auch wenn mich vieles mit Sorge erfüllt.

Glücklich macht mich, dass ich mit meiner Frau 55 Jahre verheiratet bin und dass mir die Hobbys und Ideen nicht ausgehen. Ich schnitze mit der Kettensäge, male, veredele Obstbäume im Huy und tüftele am Rollstuhl der Zukunft, der es schafft, Treppen zu steigen und sich auf der Stelle zu drehen. Ich habe im hohen Alter Keyboard-Unterricht genommen, mir mit Unterstützung des Orgelbauers eine Drehorgel gebaut und unter Anleitung einer Goldschmiedin Ringe für die Familie angefertigt. Ich bin ausgelastet und genieße es, das alles ohne Druck tun zu können. 

Im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte würde ich sagen: Das Leben verläuft wie eine Sinuskurve, mit Höhen und Tiefen. Vieles hat sich gefügt, manches hat mich überrascht. Ich habe keinen Grund, traurig zu sein. Ich sage einfach Danke.“