Martini - das optimistische Halberstadt-Magazin

Ganz oder gar nicht

Eine Halberstädter Weihnachtsgeschichte von Jörg Loose

Im fernen Lappland, dort, wo die Nächte endlos und die Schneeflocken groß wie Zimtsterne sind, sitzt der Weihnachtsmann an seinem knisternden Kamin. Eigentlich ist er ein fröhlicher Geselle – gutmütig, rundlich, immer bereit für ein Tässchen Kakao und ein zweites Stück Stollen. Doch an diesem Abend ist er ganz aufgebracht. Er schnaubt, die Brille rutscht ihm von der Nase, und sein Bauch bebt nicht vor Lachen, sondern vor Empörung.

„Ganz zauberhaft… ganz festlich… ganz irgendwas“, brummt er, während er die Nachricht liest. „Diese Stadt Halberstadt, eine Ansammlung von übermütigen Spitzbuben irgendwo in Deutschland, haut ganz schön auf die Kacke. Die behaupten neuerdings ‚ganz weihnachtlich‘ zu sein. Ohne mein Siegel? Ohne meine Erlaubnis? Das schlägt ja wohl dem Glühweinfass den Boden aus!“

Er stemmt die Hände in die Hüften, stapft einmal im Kreis und weist seine Wichtel an, fix zu googeln, wer in Halberstadt das Sagen hat – und bei wem also Beschwerde einzulegen ist. „Ein steinalter Typ mit Schwert ist dort der Chef“, finden die Wichtel heraus. „Er hält auf dem Holzmarkt seit Jahrhunderten Wache.“ 

Die Wichtel geben dem Weihnachtsmann die Handynummer von Rolands steinernem Smartphone. Dessen Miene ist wie immer unbeweglich, doch in seiner Stimme schwingt Sorge mit. „Mein lieber Weihnachtsmann“, versucht Roland den aufgebrachten Anrufer zu beschwichtigen. „Ganz ruhig. Was ist denn geschehen?“ Der Alte platzt heraus: „Was geschehen ist? Diese Stadt wirbt mit ganz weihnachtlich! Das ist mein Werbeslogan! Meine Hoheit! Mein Fest! Wenn das jeder dürfte, wäre ich bald arbeitslos! Damit ihr das auch in eurer halben Stadt begreift: Ganz verärgert bin ich, ganz empört, ganz beleidigt!“ Roland seufzt – oder tut das, was einem Seufzer für einen Steinmenschen am nächsten kommt. „Aber du kannst den Kindern doch nicht das Fest verderben“, fleht er kopfschüttelnd.

„Doch!“, ruft der Weihnachtsmann. „Als Strafe gibt es dieses Jahr keine Geschenke für Halberstadt!“ Roland wird ganz blass. So blass, wie grauer Sandstein eben werden kann. „Höre, alter Freund“, sagt er sanft. „Komm hierher! Sieh dir die Stadt selbst an. Ich schlage dir einen Handel vor: Wenn du hier nur ein einziges Mal ganz weihnachtlich sagst, dann soll Halberstadt deinen Geschenkesegen haben.“

Der Weihnachtsmann, der eh vor dem Wunschzettel-Tsunami in seinem Dorf fliehen will, nickt. Und so spannt er am ersten Advent seine Rentiere vor den Schlitten und macht sich auf die Reise. Die Luft flimmert, und mit einem satten Ploff! landet der Schlitten auf dem Dach der Halberstädter Martinikirche. Roland erwartet ihn schon oben in der alten Türmerwohnung, die er in Windeseile festlich hergerichtet hat. Der Tisch biegt sich unter Kerzen, Gebäck, einem prachtvollen Domstollen und der ersten dampfenden Kanne Glühwein. Der Weihnachtsmann schnuppert. „Hm… ganz lecker, dieser Stollen…“, sagt er kauend.

Roland führt ihn ans Fenster. Von hier oben sieht man die beiden Weihnachtsbäume: den traditionsreichen auf dem Holzmarkt und den neuen, nahezu majestätischen, auf dem Domplatz. Drei Tage haben die Männer gebraucht, um ihn zu schmücken – ein Wunderwerk der Geduld und Technik. „Hm… ganz imposant“, murmelt der Alte.

Gerade will Roland zu einem neuen Versuch ansetzen, da drängen sich Kinder die enge Wendeltreppe hinauf. Fröhlich singend, mit leuchtenden Augen. Sie trällern das extra komponierte Halberstädter Weihnachtslied, zeigen aufgeregt zum noch recht jungen Weihnachtsbaum an der Martinikirche. „Ganz kindgerecht“, brummt der Weihnachtsmann. „Ganz nett.“

Wieder nichts. 

Roland nimmt ihn mit zum Weihnachtsliedersingen in den Dom. Barock, feierlich, voll warmer Klangfarben. Der Alte nickt freundlich, schließt einmal kurz die Augen – aber sagt nur: „Nun ja… ganz musikalisch.“

Die steinerne Stirn des Rolands runzelt sich, aber aufgeben ist nicht seine Art. Also ruft er zur nächsten Runde: „Alle einsteigen, alle in den Schlitten!“

Kinder, Sänger, Musikanten, sogar zwei etwas verdutzte Engel drängen sich zwischen die Rentiere. Es wird geschubst, gelacht, gekreischt, und der Schlitten hebt ab in die klare Adventsnacht.

Sie fliegen über die Weihnachtshöfe der Altstadt – überall Glühwein, Bratwurst, Basteleien, Musiker und Leute, die sich rund um die Feuerschalen die Nasen und Popos aufwärmen. Der Weihnachtsmann sieht hunderte fröhliche Gesichter, Lichterketten, improvisierte Bühnen. An jeder Ecke erklingen Gitarren und Trompeten.

Zum krönenden Abschluss in der Türmerwohnung klettert ein schnaufender Koch die Wendeltreppe hinauf, trägt auf einem Silbertablett eine glänzend gebratene Weihnachtsgans, gefüllt mit Bratäpfeln, umringt von Knödeln, flankiert von Rotkohl.

Der Weihnachtsmann fragt ehrfürchtig: „Oh, welche Köstlichkeit schmeichelt da meinen Sinnen?“ 

Roland lächelt und reicht ihm die Menükarte. 

Der Weihnachtsmann liest laut: „Gans weihnachtlich.“

Es ist kurz still. Dann bricht der Alte in schallendes Gelächter aus, das in jede Stube zu hören ist. Weihnachten ist gerettet!
Danke, Roland!