Martini - das optimistische Halberstadt-Magazin

Bodenlos glücklich

Michael Mütze ist Theologe ohne Höhenangst: Seit Ende der 1980er-Jahre zieht es ihn in die Kirchen des Landes – vor allem aber auf deren Türme. Als Industriekletterer ist er auch auf Halberstadts Kirchendächern unterwegs.

Im Sommer 1981 turnte ein 18-jähriger Jüngling mit einer Säge in der Hand halsbrecherisch auf der letzten Stufe einer Holzleiter über das Kirchendach der St.-Jacobi-Kirche im sächsischen Neustadt. „Wir waren jung“, gibt Michael Mütze mit einer Mischung aus Wehmut und Missbilligung zu Protokoll. Dann huscht ein schelmisches Blitzen über sein Gesicht, und der erfahrene Industriekletterer erklärt: „Eine unglaublich blauäugige Aktion – aus heutiger Sicht. Aber was sollten wir machen? Ein kleiner Eckturm stand schief und drohte, mit großem Schaden ins Kirchendach zu stürzen.“ Das war der Beginn einer Passion, die den anfänglichen Hobbykletterer aus dem Elbsandsteingebirge bis heute durch das Leben trägt.

Schon während seines Theologiestudiums kümmerte sich der Sprössling einer alteingesessenen Pfarrersfamilie nicht nur um die Heilige Schrift, sondern auch um die steinernen Hüllen, in denen sie auf Erden beheimatet ist. Gemeinsam mit Freunden rettete er in seiner Freizeit zahlreiche marode Kirchtürme vor dem Verfall.  Stets mit dabei war und ist seine Frau Uta. In den Anfangsjahren bei fast allen Rettungsaktionen selbst aktiv, hielt ihm die Gymnasiallehrerin in den Folgejahren nicht nur den Rücken frei, sondern war vorwiegend organisierend und koordinierend dabei. „Uta trug mich und die Firma über die Jahre ganz maßgeblich, und besonders in der ersten Zeit stand ihr der eine oder andere Tropfen Angstschweiß auf der Stirn“, blickt der Kletterer mit Dankbarkeit und Wärme zurück.  Dem diplomierten Theologen war bald klar: Seine Bestimmung sind Kirchen – vor allem aber deren Türme und Dächer. Mit zusätzlichen Ausbildungen zum Schlosser und Dachdecker legte er eine handwerkliche Basis für Arbeiten aller Art in luftiger Höhe.

1992 gründete Michael Mütze seine eigene Firma. Einen besonderen Schub brachte die Verhüllung des Berliner Reichstags durch das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude im Jahr 1995, an der Mütze mit seiner Firma beteiligt war. Industriekletterer rückten erstmals ins Rampenlicht – vom Schattendasein spezialisierter Abenteurer und Amateure zu gefeierten Könnern in luftiger Höhe. 

Ein Wendepunkt – für den Berufsstand und für Michael Mütze. Seine Firma und die Aufgaben wuchsen. Ständig betrat er Neuland, war an der Entwicklung von Techniken, Verfahren und Standards des jungen Berufsbildes Industriekletterer beteiligt. „Man kann schon sagen, dass ich einer der Geburtshelfer dieses Berufs war“, freut sich der Meister der Lüfte. Wieder huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Dafür spricht auch, dass er bundesweit einer der ersten von der Berufsgenossenschaft zertifizierten Industriekletterer war – und dazu der erste mit der amtlich beglaubigten Berufsbezeichnung „Gerüstlose Höhenarbeiten“.

Das Spektrum der Arbeiten für seinen „Alpintechnischen Höhendienst“ wurde immer breiter: vom schlichten Baumbeschnitt oder der Taubenabwehr über Schornsteinabriss wie etwa im Braunkohletagebau Jänschwalde bis zu herausfordernden Neubauten wie dem Foliendach von Tropical Islands oder Arbeiten am Münchner Olympiastadion. Dort sind es nicht Schiefer, Sand- oder Kalkstein, sondern moderne Materialien wie Stahl, Glas und Folien, die bearbeitet werden.

Doch Kirchen mit ihren Türmen und Dächern bleiben der bestimmende Grundton. „In Sachsen war ich auf den Spitzen fast aller Kirchtürme. Auch die neuen Bundesländer kenne ich vorwiegend aus der Kirchturmperspektive.“ Etwa 25 Prozent habe er erstiegen, schätzt der durchtrainierte Mittsechziger. Da ist es schon ein kleines Wunder, dass Halberstadt erst spät in seinen Blick geriet.

Irgendwann stand Michael Mütze während eines Urlaubs mitten auf dem Domplatz – mit offenem Mund und staunenden Augen. „Ich bin in den Kirchen Deutschlands zu Hause. Aber dieser Blick auf die viertürmige romanische Liebfrauenkirche, den gotischen Dom und die ungleich behelmte Martinikirche – der verschlägt einem den Atem. Der Domplatz zählt zu den wunderbarsten Plätzen, die Deutschlands Städte zu bieten haben.“ Da war schnell klar: Diesen Blick musste er auch aus der Höhe genießen. Visitenkarten wurden verteilt, und ein halbes Jahr später meldete sich die Liebfrauengemeinde mit dem ersten Auftrag.

„Der Domplatz zählt zu den wunderbarsten Plätzen deutscher Städte.“

Die Firma des professionellen Industriekletterers beschäftigte in der Vergangenheit bis zu fünf Mitarbeiter und bildete Nachwuchs aus. Heute gibt es nur noch einen Angestellten. Die Industriekletterei ist schwere, unstete Arbeit mit einem breit gefächerten Aufgabenspektrum und zahlreichen Spezialisierungen – da erwies es sich als sinnvoller, je nach Auftrag eine optimale Mannschaft zusammenzustellen. Industriekletterer bilden eine kleine, aber bestens vernetzte Community von Solo-Selbstständigen. Michael Mütze fungiert häufig als zentrale Anlauf- und Schaltstelle, nimmt Aufträge entgegen und koordiniert die Abarbeitung.

So kam auch die Zusammenarbeit mit Paul Lösel und Gregor Lawrenz zustande, die ihn nicht nur bei den präventiven Sicherungsarbeiten an der Liebfrauenkirche unterstützen. Der 22-jährige Elektriker Paul suchte mehr Spannung im Berufsalltag, und auch der drei Jahre ältere Gregor bringt als Zimmermann einen soliden handwerklichen Hintergrund mit. Wie Mütze kombinieren beide ihre Berufe mit der Leidenschaft fürs Sportklettern – und beide genießen die Zusammenarbeit mit dem Routinier, von dessen 40-jähriger Erfahrung sie profitieren.

Bevor die Begutachtung der Türme beginnt, birgt bereits der Transport der Ausrüstung über schmale Stege, enge Wendeltreppen und luftige Holzleitern eine erste schweißtreibende Herausforderung. Ist alles oben, wird der Abstiegsort sorgfältig geprüft und vorbereitet. „Ruhe und Konzentration bedeuten Sicherheit. Stress und Hektik erzeugen Fehler – und die macht man in unserem Beruf nur einmal. Auch wenn wir in der Höhe arbeiten: Unsere Profession setzt Bodenhaftung voraus“, beschreibt Gregor die Situation. Und Paul ergänzt: „Was hier vielleicht wie Improvisation wirkt, ist lediglich die Anpassung standardisierter Verfahren an die konkreten Bedingungen. Das ist stets neu, herausfordernd – aber immer belebend und spannend.“

Alles läuft reibungslos, die drei verstehen sich fast blind. Bewuchs, lockere Fugen sowie lose Steinbrocken werden entfernt, einige Kontrollpunkte aus Gips gesetzt. „Ich mache das jetzt über 40 Jahre und kann bei historischen Bauwerken schnell und sicher einschätzen, wo Gefahren oder Probleme lauern – und mit welchen Maßnahmen sie abzuwehren sind“, sagt Michael Mütze. So hat er nicht nur die konkrete Aufgabe, sondern immer das gesamte Gebäude im Blick. Diese Expertise ist gefragt – auch bei der Liebfrauenkirche. Wichtig sei, dass alle beteiligten Akteure – der Kirchbauverein, die Gemeinde, Denkmalschützer und zuständige Behörden – sich vor Ort ein Bild machen und dann gemeinsam einen Plan entwickeln. So ließen sich viele aufkeimende Probleme bereits im Vorfeld über das Seil beheben – ohne kostenintensiven Kran oder Gerüste.

Halberstadt lässt den kletternden Theologen wohl nicht mehr los – demnächst wird er sich den Dächern der Martinikirche widmen. Doch Michael Mütze sorgt nicht nur für intakte Kirchenmützen, er tauscht auch hin und wieder das Klettergeschirr gegen den Talar – etwa für eine Bergpredigt der besonderen Art in der Sächsischen Schweiz.

Auf die Frage, wie lange er den körperlich anstrengenden Job als Kletterer noch machen will, antwortet er ohne Zögern: „Hier bin ich bodenlos glücklich. Ich mache das, bis sich meine Augen schließen.“