„Stunde 0 – nach dem Sturm“ heißt die Sonderausstellung mit Arbeiten von Daniel Priese, die am 8. Mai um 17 Uhr im Domschatz eröffnet wurde. Die Steinskulpturen des Bildhauers stehen Fotografien gegenüber, die Halberstadt in den ersten Friedenswochen 1945 zeigen.
Von Dana Toschner
Dass alle Veranstaltungen der diesjährigen Domfestspiele unter dem Titel „Stunde 0 – nach dem Sturm“ das Kriegsende 1945 und den Neuanfang thematisch umkreisen, geht auf eine Idee von Dr. Uta-Christiane Bergemann zurück. Dabei will die Museumsdirektorin des Domschatzes den Finger nicht in die Wunde legen, um an die Bombardierung der Stadt, die Zerstörung und das damit verbundene Leid zu erinnern, sondern auf das hinweisen, was es in jenen Wochen nach Kriegsende im späten Frühjahr und im Sommer 1945 an Überlebens- und Aufbauleistung gab. „Ich möchte bewusst einen anderen Blick darauf werfen. Ich verbeuge mich vor den Halberstädtern und ihrer Leistung, aus den Trümmern aufzustehen, um das Leben in der Stadt wieder neu zu organisieren.“
Daniel Priese - Foto: Dana Toschner/ideengut.info
Bei ihren Recherchen im Städtischen Museum und im Stadtarchiv sei sie nämlich nicht nur auf Bilder der Zerstörung gestoßen, sondern auch auf viele Notizen, die von Lebenswillen und Lebensmut zeugen. „Man kann sich heute kaum vorstellen, wie es in der schwierigen Gemengelage möglich war, überhaupt an den Wiederaufbau der Stadt zu denken“, sagt sie und erinnert daran, dass die Besatzungsmächte binnen kurzer Zeit wechselten. „Am 11. April 1945, drei Tage nach der weitgehenden Vernichtung der Stadt, übernahm die US-Armee das Kommando, im Mai wurden die Amerikaner von den Briten und am 1. Juli durch die Sowjets abgelöst.“
Besonders beeindruckt habe sie, dass Arbeiter schon im Juni 1945 unter der Leitung des Dombaumeisters Walter Bolze begannen, sich um die Schäden am Dom zu kümmern und die Schuttberge rund um die Kirche zu beräumen. „Man hatte kein Geld, keine Arbeitskräfte und kein Material – und versuchte es trotzdem. Die Leute setzten alles daran, Holz zu beschaffen, um den Dachstuhl zu rekonstruieren. Als sie endlich ein Auto für den Transport hatten, wurde das Holz einfach beschlagnahmt“, berichtet Dr. Uta-Christiane Bergemann. Die Kunstwerke des Domschatzes und einige der mittelalterlichen Glasmalerei-Fenster waren glücklicherweise rechtzeitig vor dem Luftangriff geborgen worden und überstanden die Zerstörungen.
Um den Fokus auf jene Wochen und die bemerkenswerte Leistung der Menschen in Halberstadt zu richten, hat die Kunsthistorikerin nun die Ausstellung initiiert und mit Daniel Priese einen Künstler gewonnen, der an ihre Idee anknüpfen wird. „Er arbeitet als Berater am Dom. Ich habe ihn als unglaublich sensiblen, ästhetischen Menschen kennengelernt“, sagt die Museumsdirektorin. Sie hat historische Fotografien aus dem Archiv des Fotostudios Mahlke gesichtet und jene ausgewählt, die nun Teil der Ausstellung werden. Im oberen Kreuzgang des Domschatzes werden sie zu sehen sein und mit den Steinskulpturen des Bildhauers in den Dialog treten.
Für Daniel Priese drängt sich der gedankliche Zusammenhang zwischen seinen Skulpturen und den Bildern der zerstörten Stadt geradezu auf. „Meine freien Arbeiten verstehen sich meist als Segmente von etwas Größerem, und sie tragen Spuren. Das sind Merkmale von etwas, das zerstört wurde“, beschreibt er die Verbindung.
Er habe sich zunächst mit den Fotografien aus den ersten Friedenswochen beschäftigt, um die Stimmung der Bilder aufzunehmen, im zweiten Schritt vorhandene Arbeiten ausgewählt und einige neue geschaffen. „Dass ich mich diesem Projekt intensiv widmen konnte, verdanke ich der Barheine-Stiftung, die mich finanziell unterstützt hat“, sagt der 62-Jährige.
Sonderausstellung im Domschatz mit Arbeiten des Bildhauers Daniel Priese
Während der Künstler den Stein in seiner Halle am Stadtrand, die ihm seit vielen Jahren als Atelier dient, bearbeitete, wanderten seine Gedanken von der Vergangenheit immer wieder zur Gegenwart. „Wir sehen beinahe jeden Tag Krieg und Zerstörung in den Nachrichten. Die Luftbilder zerstörter Städte im Gazastreifen haben mich nicht losgelassen und inspiriert, ein größeres Bodenrelief zu schaffen.
Das ist ein ziemlich konkreter Bezug zur Wirklichkeit, den man so in Prieses Arbeiten sonst selten findet. „Sie sind nicht gegenständlich. Das bedeutet, sie wollen nichts abbilden“, sagt er. „Der Betrachter soll in seiner Wahrnehmung völlig frei bleiben. Er schaut einen Stein an, fasst ihn an. Die Form und das Material reizen die Sinne. Wer offen wahrnimmt, entdeckt etwas.“
Bei der Vorbereitung der Ausstellung blickte er nicht vorrangig auf die Aktivitäten zur Neuorganisation des Lebens in der zerstörten Stadt, sondern auf das, was im Stillen geschieht. „Mich interessiert die kurze Zeitspanne des Innehaltens und Sammelns nach einer solchen Katastrophe. Was passiert, bevor man ins Handeln kommt? Man registriert, was ist. Man versucht zu begreifen, in welchem Zustand man sich befindet, versucht sich neu zu sortieren und emotional damit klarzukommen. Das ist für mich die Stunde 0.“
Wenn von einem Tag auf den nächsten kein Stein mehr auf dem anderen liege, mache das etwas mit den Menschen. Diese Stunde 0 könne man durchaus auch auf andere Situationen beziehen, auf ein Unglück, einen Verlust oder die Diagnose einer schweren Krankheit. Daniel Priese, der selbst eine Krebserkrankung überstanden hat, weiß, wie es sich anfühlt, wenn das Begreifen unmöglich erscheint. Würde er die Stadt als geheilt betrachten? „Nein. Es geht vielmehr darum, die Spuren, die der Krieg in Halberstadt hinterlassen hat, wahrzunehmen und anzuerkennen. In meinen Augen hält der Prozess des Wiederaufbaus bis heute an.“