Martini - das optimistische Halberstadt-Magazin

Glas hält mich fit

Man sagt, Altwerden ist nichts für Feiglinge. Aber wie fühlt es sich an? Welche Gedanken treiben ältere Menschen um? Für unsere Serie „Späte Jahre“ hat Martini-Autor Jörg Loose den 86-jährigen Hans-Georg Losert besucht und ihn gebeten, aus seinem Leben zu erzählen.

Das kunstvoll gestaltete Glas war und ist der Polarstern meines Lebens. Mein Großvater, ein gelernter Glasmaler und -meister, kam als Vertreter der königlichen Glasmalerei zur Restaurierung der Domfenster nach Halberstadt. Es war der letzte königliche Auftrag – und mein Großvater, der hier seine spätere Frau kennenlernte, blieb in der Stadt und gründete 1902 seine erste eigene Werkstatt. Da auch mein Vater in seine Fußstapfen trat, verwundert es nicht, dass bald auch ich nur noch die bunten Scherben im Kopf hatte. Doch bis ich schließlich selbst als Restaurator tätig wurde, war es ein weiter Weg.

Für uns Loserts spielte der Dom immer eine zentrale Rolle. Seine Glasfenster betreuten wir über viele Jahrzehnte hinweg. Da ich als Sohn eines selbstständigen, noch dazu katholischen Glasermeisters in der DDR zunächst nicht zur Oberschule zugelassen wurde, absolvierte ich eine Ausbildung im väterlichen Betrieb. Ab 1957 erweiterte ich meinen Horizont in Glasmaler- und Glasrestaurierungswerkstätten am Niederrhein und in Straßburg. Praxis ist ja bekanntlich besser als jede Theorie. Parallel zur Meisterprüfung in Magdeburg erlangte ich später an der Abendschule die Hochschulreife. 

Bevor mein Vater die PGH Glas in Halberstadt aufbaute, gliederten wir den Bereich Glasmalerei aus, mit dem ich meine eigene Werkstatt gründete. Fortan war ich als Kunstschaffender im Handwerk eingestuft. Danach studierte ich Glastechnologie in Weißwasser – natürlich hatte ich auch dort stets ein Auge auf die farbigen Gläser. Auch meine Frau absolvierte diese Ausbildung. Als Absolventen waren wir verpflichtet, in der Industrie zu arbeiten. So fasste ich als technischer Leiter in der Glashütte Derenburg sämtliche kleinen Glasbetriebe der Umgebung zu dem heute bekannten großen Betrieb zusammen und war zugleich maßgeblich in der Preiskommission der Glasindustrie der DDR tätig. Damit wurde aus dem künstlerisch ambitionierten Handwerker erst ein Meister – und dann der technische Direktor eines Großbetriebs. Während ich technischer Leiter eines Glaswerks in Aken war, wollte die Hochschule Halle das Glaswerk Derenburg übernehmen, das zum Verkauf stand.

So überführte ich die Glashütte Derenburg als Ausbildungsbetrieb für Kunststudenten an die Burg Giebichenstein. Damit eröffnete sich mir schließlich doch wieder eine Weggabelung in die künstlerische Richtung. Ich erhielt einen Lehrauftrag zur technischen Ausbildung der Studenten und arbeitete fortan sowohl im Hochschulbetrieb als auch in der Glashütte. In Derenburg rückte zunehmend die künstlerische Ausgestaltung der Produkte in den Mittelpunkt meiner Arbeit.

Bald beanspruchte die Lehrtätigkeit meine volle Aufmerksamkeit. So wurde aus dem technischen Direktor ein Hochschullehrer. Allerdings wehte auch an der Burg Giebichenstein für Nicht-SED-Kader ein rauer Wind. Es war eine glückliche Fügung, dass ich 1987 – durch Fürsprache des berühmten Willy Sitte – schließlich Mitglied des Künstlerverbandes werden konnte. So wurde ich mit 48 Jahren freischaffender Künstler. Den Lehrauftrag an der Hochschule behielt ich bis 2004.

Die Domfenster gesichert zu wissen, ist ein großes Glücksgefühl.

In Halberstadt hatte ich zwischenzeitlich ein Haus gebaut, in dem ich mit meiner Frau und meinem Sohn wohnte – und in dem ich auch technische und künstlerische Experimente realisieren konnte. Da in der DDR viele Kirchen noch nicht restauriert waren, wurden deren Fenster der Schwerpunkt meiner Arbeit. Zum Künstler kam der Bewahrer, der Restaurator. Ich restaurierte Fenster in sakralen Bauten in der ganzen DDR – hier halfen mir meine praktischen Erfahrungen vom Niederrhein. Jetzt hatte sich der Kreis geschlossen, und ich trat endgültig in die Fußstapfen meines Großvaters.

Daran änderte sich auch nach der Wende nichts. Als im Zuge eines Neubaus am Gleimhaus eine Bombe gefunden wurde, bauten wir in einer Nacht-und-Nebel-Aktion sämtliche Fenster des Doms aus. Ein Glücksfall – denn so stellte sich heraus, dass vielerorts akute Gefahr bestand, die nur durch eine grundlegende Restaurierung abgewendet werden konnte. Diese führten wir in den folgenden zehn Jahren konsequent durch.

Die Fenster des Doms nun auf Jahre hinaus gesichert zu wissen, ist ein großes Glücksgefühl. Dass mein Sohn Birk meine Arbeit fortsetzt, ebenso. Ich bin unbeirrbar dem Weg gefolgt, den mir mein gläserner Polarstern gewiesen hat. So hatte ich das große Glück, immer das tun zu können, was mich interessierte und was mir Freude und Erfüllung brachte. In vielen Kirchen des Landes habe ich meine Spuren hinterlassen. Besonders stolz bin ich auf die Fenster in der bischöflichen Kathedrale St. Sebastian in Magdeburg und auf die in der Andreaskirche in Halberstadt.

Ich glaube nicht, dass ein solcher Werdegang heute noch möglich wäre. Das Wissen über Glas war früher in der Denkmalpflege wesentlich ausgeprägter. Heute muss alles schnell gehen. Das können kleine Restaurierungswerkstätten kaum noch leisten, und es wird immer schwieriger, größere und zugleich lohnende Aufträge zu bekommen. Daher konzentrieren wir uns inzwischen auf kleinere Kunstwerke für den privaten Gebrauch – das funktioniert im Sammlerland Deutschland erstaunlich gut.

Auch jetzt, jenseits der 80, bin ich täglich mit großer Freude am Zeichentisch oder in der Werkstatt aktiv. Ruhestand ist für mich ein Fremdwort. Glas – das Malen mit Licht – hält mich fit. Es motiviert mich, auch nach gesundheitlichen Rückschlägen immer wieder aufzustehen. Ich hoffe, dass das noch lange so bleibt.“