Jeden Tag räumt Stephanie Keil kleine Stolpersteine aus dem Weg – Hürden, die kaum jemand bemerkt, aber die sie Kraft kosten. „Es wäre schön, wenn ich nicht ständig springen müsste. Mein Leben wäre einfacher“, sagt die 49-Jährige aus Halberstadt. Was sie sich wünscht? Mehr Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse tauber und schwer hörgeschädigter Menschen – ohne Vorwürfe, aber mit dem Wunsch, etwas zu verändern. „Ich will nicht anklagen, ich will aufklären. Das ist mir wichtig.“ Oft sei es kein böser Wille, wenn sie übergangen wird, sondern Unsicherheit oder Gedankenlosigkeit. „Für Hörende ist es schwer, sich in eine taube Person hineinzuversetzen. Das ist ganz normal.“
Tag für Tag versucht sie, ihr Umfeld zu sensibilisieren. Etwa wenn im Wartezimmer einer Arztpraxis ihr Name ausgerufen wird, obwohl sie den Schwestern gerade gesagt hat, dass sie taub ist. Oder wenn Freunde und Bekannte vergessen, ihr das Gesicht zuzuwenden, während sie sprechen. „Ich erinnere sie wieder und wieder daran. Manchmal fühle ich mich wie eine Nervensäge, aber ohne die Lippen zu sehen, kann ich nun mal nichts verstehen.“ Traurig macht sie, wenn mehrere Hörende um einen Tisch sitzen, sich Sätze wie Ping-Pong-Bälle hin- und herwerfen und alle lachen. „Nur bei mir kommt der Witz nicht an. Ich kann so schnell gar nicht sehen, wer spricht, und verpasse den Gag“, beschreibt sie eine typische Situation. „Ich wäre gern einfach nur ein Teil dieser lachenden Gruppe. Aber ich bin es nicht.“
Das Gefühl, ausgegrenzt zu sein, nicht richtig dazuzugehören, begleitet sie schon fast ihr ganzes Leben. Sie wurde taub geboren. Ihre Eltern wussten das nicht sofort nach der Geburt, weil es die Hörscreenings für Neugeborene damals noch nicht gab. Als ihr Tochter etwa ein Jahr alt war, diagnostizierten die Ärzte eine „an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit“. Die Eltern mussten sich darauf einstellen, dass ihr Kind ohne technische Hilfsmittel nicht sprechen lernen würde.
„In der DDR gab es kaum Möglichkeiten, sich Rat und Unterstützung zu holen. Meine Eltern, beide Lehrer, wollten mir eine gute Entwicklung ermöglichen. Sie förderten mich, es war ihnen wichtig, dass ich Sprechen lernte“, sagt Stephanie Keil. Schon als Kleinkind trug sie ein sogenanntes Taschengerät um den Hals, um ihr Resthörvermögen zu nutzen. Sie besuchte mit anderen hörgeschädigten Kindern den Kindergarten in der Villa Klus und später die Tamara-Bunke-Schule, die seit 1991 Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte ist und heute den Namen Carl-Kehr-Schule trägt. „Ich denke, in der zweiten oder dritten Klasse wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich anders bin“, sagt sie. „Ich wollte beweisen, dass ich was kann. In vielen Köpfen gab es damals das Bild: Wer nicht hören kann, ist auch ein bisschen dumm.“
Dieses Vorurteil machte sie wütend – und legte den Grundstein für ihren enormen Ehrgeiz. Sie hörte am schlechtesten in ihrer Klasse und rettete sich, in dem sie lernte, immer besser von den Lippen zu lesen. „Das verlangte enorme Konzentration, doch unsere Lehrer nutzten kaum Gebärden“, erinnert sie sich. Das war in den Gehörlosenschulen der DDR zu jener Zeit üblich: Es galt das Ziel, die Kinder zum Gebrauch der gesprochenen Sprache zu erziehen. Die Gebärden hingegen sollten den Kindern abgewöhnt werden, da sie angeblich das Erlernen der Lautsprache behindern würden.
Ich wäre gern einfach nur ein Teil dieser lachenden Gruppe. Aber ich bin es nicht.
Für Stephanie wurde das Sprechenüben zur Kraftanstrengung: Sie übte vormittags in der Schule und am Nachmittag zu Hause. „Meine Eltern haben mich oft verbessert, was ich nervig fand. Und mein Vater hat mich regelmäßig aus der Zeitung vorlesen lassen, damit ich die Aussprache übe.“ Damals habe sie das ständige Trainieren genervt. „Aber am Ende hat es mich wohl dorthin gebracht, wo ich jetzt bin. Heute bin ich dafür dankbar.“
Sie schaffte den Sekundarschulabschluss und ging danach an ein Berufskolleg nach Essen, um das Abitur zu machen. Diese Entscheidung war rückblickend ein Segen. „Dort habe ich gesehen, welche Bandbreite der Gebärden es gibt. Ich habe die Sprache gelernt und alles aufgesaugt wie ein Schwamm.
Rückblickend denke ich, es wäre toll gewesen, wenn meine Eltern zu diesem Zeitpunkt auch versucht hätten, die Gebärdensprache zu lernen.“ Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie fließend und entspannt mit anderen kommunizieren und auch tiefgründige Gespräche führen. „Ich habe mich zugehörig und aufgehoben gefühlt – auf Augenhöhe mit den anderen, als Teil einer Gemeinschaft.“
1995 hatte sie das Abitur in der Tasche und kehrte nach Halberstadt zurück. Auch das nächste Vorhaben, eine Ausbildung zur Bankkauffrau bei der Sparkasse, absolvierte sie ohne Probleme – obwohl sie in Böhnshausen in einer Berufsschulklasse mit 30 hörenden Mitschülern saß und alles von den Lippen ablesen musste. „Heutzutage hätte man Anspruch auf einen Gebärdensprach-Dolmetscher“, sagt sie. „Damals musste ich selber sehen, wie ich zurechtkomme.“
Das galt auch für das anschließende Wirtschaftsinformatik-Studium an der Fachhochschule in Wedel bei Hamburg. Mit der Unterstützung einer Kommilitonin, die unter ihre Notizen während der Vorlesung Blaupapier legte und auf diese Weise eine Kopie erstellte, schaffte sie es in der Regelstudienzeit.
Was sie trotz aller Hürden erreicht hat, macht Stephanie Keil stolz. Doch weder der Bachelor-Abschluss, noch die Festanstellung im Controlling der Halberstadtwerke gaben ihr das Gefühl, am Ziel zu sein. „Ich bin eigentlich bis heute nicht angekommen. Ich kämpfe immer weiter und versuche, mich immer wieder neu zu beweisen. Wenn du dir das Leben als Zug vorstellst, gebe ich mich nicht damit zufrieden, in der zweiten Klasse zu sitzen. Ich will erstklassig sein!“
Sie heiratete, brachte 2005 die erste Tochter zur Welt, 2010 folgten ihre Zwillinge. „Mittlerweile bin ich geschieden, und wir sind ein gut funktionierender Frauenhaushalt“, sagt Stephanie Keil. Die Töchter, die alle hörend zur Welt kamen, haben neben der Lautsprache auch die Gebärdensprache gelernt. „Zu Hause sprechen wir einen Mischmasch. Das funktioniert auch dann ganz wunderbar, wenn meine Partnerin zu Besuch ist. Sie lebt in Köln und ist ebenfalls taub.“
Aus dem Zusammensein mit ihrer Lebensgefährtin und den anderen Freunden aus der Gehörlosen-Community schöpft Stephanie Keil Kraft. „Mit ihnen bin ich entspannter. Wir haben teilweise andere Themen und eine eigene Kultur. Es gibt in den großen Städten extra Theatergruppen, Comedyshows und Musicals in Gebärdensprache.“ Sie genießt es, sich einfach zurückzulehnen und alles zu verstehen. Ganz ohne Anstrengung.
„Im Alltag, in der Kommunikation mit Hörenden, bin ich immer auf Empfang. Meine Antennen sind ausgefahren, damit ich nichts verpasse. Etwa 30 Prozent eines Gesprächs erschließe ich mir durch das Lippenlesen, den Rest kombiniere ich durch den jeweiligen Zusammenhang. Das ist kräftezehrend“, beschreibt sie. In wichtigen Situationen, etwa bei Elternabenden oder Arztbesuchen, fordert sie einen Dolmetscher an. Das steht ihr gesetzlich zu, seit die Gebärdensprache durch das Behindertengleichstellungsgesetz 2002 offiziell anerkannt wurde.
Stephanie Keil boxt sich durch. Alle Anstrengungen, das restliche minimale Hörvermögen irgendwie zu nutzen, hat sie inzwischen aufgegeben. „Da ist nichts mehr“, sagt sie. „In meinem Kopf ist Stille.“ Bis vor wenigen Monaten hat sie ein Hörgerät getragen. Auch ein Cochlea-Implantat (CI) ließ sie sich 2008 einsetzen. „Ich habe es versucht, war vor der Operation voller Hoffnung, aber es gibt in Fällen wie meinem keine Garantie dafür, dass es funktioniert. Ich nahm nur Geräusche wahr, wie das Ticken einer Uhr oder das Rascheln von Papier. Sprache konnte ich trotz vieler Übungsstunden nicht verstehen. Nach ein paar Jahren habe ich mich bewusst entschieden, es abzulegen.“
Wenn ein Weg in die Sackgasse führt, verzagt sie nicht, sondern nimmt es hin und sucht einen anderen. Vielleicht ist es das, was man sich von der 49-Jährigen abschauen kann: Nicht zu kapitulieren, auch wenn das Terrain schwieriger wird. Dazu passt ihr Hobby, das Geocaching für Fortgeschrittene. Um kleine versteckte Gegenstände zu finden, klettert sie auf Bäume, seilt sich von Brücken ab, steigt in Abwasserkanäle ein oder in verlassene Gebäude, sogenannte Lost Places. „Ich bin da ziemlich angstfrei und suche das Abenteuer“, sagt sie.
Und wonach sucht sie im echten Leben? „Nach mehr Verständnis und weniger Ausgrenzung! Die hörende Welt macht mich behindert, wenn sie mir keinen Zugang gewährt. Ich möchte weniger kämpfen und mehr teilhaben.“