Martini - das optimistische Halberstadt-Magazin

„Hoffen und geduldig sein“

Man sagt, Altwerden ist nichts für Feiglinge. Aber wie fühlt es sich an? Welche Gedanken treiben ältere Menschen um? Für unsere Serie „Späte Jahre“ hat Martini-Autor Jörg Loose den 86-jährigen Helmut Kirsch gebeten, aus seinem Leben zu erzählen.

Wenn Sie diese Zeilen lesen, habe ich Halberstadt nach 64 Jahren bereits verlassen. Mit fast 87 Jahren fällt es mir zunehmend schwer, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Beine wollen nicht mehr, und auch wenn bisher alle Stürze glimpflich abgingen, wer weiß, wie lange noch? Deshalb ziehe ich zu meinen Kindern nach Bad Liebenwerda, in eine für mich ausgebaute altersgerechte Wohnung im Haus meines Enkels. Die Heimat zu verlassen, fällt mir schwer. Wir Ostpreußen stehen nicht nur für Ordnung und Disziplin, sondern auch für Geduld, Ausdauer und Hartnäckigkeit. Aber hier bliebe mir nur das Seniorenheim. Meine Frau, die vor fünf Jahren starb, hatte zuvor anderthalb Jahre im Pflegeheim verbracht und sich dort wohlgefühlt – auch, weil ich sie jeden Wochentag besuchte. Am Wochenende kamen die verstreuten Kinder und Enkel. Das war schon stressig, und ich möchte ihnen das gern ersparen. Zudem erhoffe ich mir im ,familiär betreuten Wohnen’ ein größeres Maß an persönlicher Freiheit. 

Für diese Möglichkeit bin ich sehr dankbar. Aber vielleicht schallt es nun aus dem Wald heraus, wie ich einst hineingerufen habe. Im ostpreußischen Lyck, der heimlichen Hauptstadt der Masuren, wurde ich 1938 geboren und 1944 eingeschult. Da war die Front schon sehr nah. Zunächst wurden wir evakuiert und 1947 endgültig aus der masurischen Heimat vertrieben und landeten in Güterwaggons im Quarantänelager Wernigerode. Nach Entlausung und medizinischen Untersuchungen fanden wir Unterkunft in Ströbeck. Ich habe das zunächst als großes Abenteuer erlebt und erst später begriffen, was meine Mutter gelitten und geleistet hat. Nicht nur ihre gutbürgerliche Existenz musste die Geschäftsfrau aufgeben. Völlig mittellos und auf sich allein gestellt – mein Vater war 1944 gefallen – versorgte sie drei Kinder und ihre eigenen hochbetagten Eltern. Klaglos hat sie schwerste Feldarbeit sowie Vorurteile und Vorbehalte der Einheimischen ertragen.

… vielleicht schallt es nun aus dem Wald heraus, wie ich einst hineingerufen habe.

Ich war ein guter Schüler und absolvierte den Schulstoff von acht Jahren in sechs. Oberschule und Studium konnten wir uns jedoch nicht leisten. So führte mein Weg als Schlosserlehrling ins RAW, und bald konnte ich meine Mutter finanziell entlasten. Das war ein gutes Gefühl. Mit Geduld und Ausdauer verbrachte ich im RAW mein gesamtes berufliches Leben. Über ein Fernstudium qualifizierte ich mich bald zum Maschinenbauingenieur. Auch wenn meine Aufstiegschancen als sogenannter „kirchlich gebundener“ Mitarbeiter eingeschränkt waren, habe ich dort gute Jahre verbracht. 

1961 heiratete ich meine Frau Hanna und wurde – trotz des Zuzugsverbotes – Halberstädter, da meine Frau, ebenfalls eine vertriebene Ostpreußin, bereits in Halberstadt lebte. Kennengelernt haben wir uns in der Jungen Gemeinde. Mein Glaube ist mir seit frühester Kindheit Lebensbedürfnis, war mir Richtschnur und Begleiter. Natürlich konnte man durch den Krieg oft an Gott verzweifeln. Aber Glaube ist eben nicht nur Erlösung, sondern auch die Last, die zu tragen ist. Die Bibel ist auch heute noch meine morgendliche Lektüre. In der Landeskirchlichen Gemeinschaft war ich jahrzehntelang in vielfältigen Leitungsfunktionen aktiv. Besonders die Wendezeit brachte immense Herausforderungen, gerade finanzieller Art, die wir in unserer Gemeinschaft gemeistert haben. Wichtige Entscheidungen habe ich meist aus dem Bauch getroffen, freilich ohne den Kopf ganz auszuschalten. 

Hoffnung und Geduld – das waren die Leitplanken meines Lebens. Vor allem habe ich versucht, Bauchentscheidungen sacken zu lassen. Damit bin ich stets gut gefahren. Geduld ist wohl meine prägendste Eigenschaft. Ich habe mir immer eine Grundgelassenheit bewahrt und negative Dinge, wie etwa Benachteiligungen im DDR-Alltag, nie zu nah an mich herangelassen. Aufbrausend hat man mich selten erlebt. Natürlich habe auch ich Fehler gemacht, Schuld auf mich geladen. Aber ein offenes Wort, eine ausgestreckte Hand, eine einfache Entschuldigung ließen diesen Rucksack der Schuld rasch leichter werden. Das vermisse ich in der heutigen Gesellschaft mehr und mehr. Die Unversöhnlichkeit der neuen Medien, diese Verhärtung im Kleinen, spiegelt sich auch in der großen Weltpolitik.

Die Rufe nach Aufrüstung, dieses ganze Kriegsgeschrei, machen mir Angst. Ich bin noch hungrig auf der Suche nach Essbarem durch zerbombte Ruinenkeller gekrochen und jahrelang durch das zerstörte Halberstadt zur Arbeit gefahren. Ich weiß, dass Krieg nicht nur Städte zerstört und Menschen tötet – ich weiß auch, was er mit den Überlebenden macht. Und jetzt spielen sich Leute auf, die Kriegsschrecken nie am eigenen Leib erfahren haben. Die letzten Jahre hielten mich Haus und Haushalt auf Trab. Früher machte ich lange Rad- und Skitouren. Das geht schon lange nicht mehr. Dafür spielte ich regelmäßig Skat und Tischtennis. Auch den Stammtisch ehemaliger RAW-Mitarbeiter habe ich gern besucht. Aber auch damit ist mit meinem Umzug nun Schluss. Angst, in der Fremde zu vereinsamen, habe ich nicht. Da sind Familie und die neue Kirchengemeinde. So werde ich rasch neue Menschen kennenlernen, die meine Werte teilen und in deren Kreis ich mich wohl fühle. Wie lange es dann noch weitergeht? Wer weiß das schon. Vor dem Tod habe ich keine Angst. Ich habe gesehen, wie sanft und friedlich meine Frau nach ihrem letzten Atemzug aussah. Dieses Bild und mein Glaube schenken mir Ruhe, meinen Lebensweg ohne Furcht zu Ende zu gehen.“