Martini - das optimistische Halberstadt-Magazin

Ein kleines Lied vom Glück

Martini 2025 Ausgabe 05-2025

Ein Chor der Nichtsänger? Die Welt ist voller Seltsam­keiten! In nur zwei Jahren wurde das Projekt der Liebfrauengemeinde zur Kultveranstaltung. Der Chor, der mal aus 100 und mal aus 200 Nichtsängern besteht, kommt ohne Noten aus und gibt keine Konzerte. Stattdessen feiert er das Unperfekte. Jeder singt, wie er kann. Ob und wie das geht, erkundete Martini-Autor Jörg Loose.

Bereits 45 Minuten vor Beginn strömen Menschen über den Domplatz in Richtung Liebfrauenkirche. Am Eingang stockt es – Rollatoren und Rollstühle waren von den Erbauern des Gotteshauses nicht vorgesehen. Im Kirchenschiff dann jede Menge lebhaft plaudernde Silberlöckchen. Ich wünsche mir inständig, dass sie genauso munter singen, wie sie schnattern und hoffe, dass es dann so schlimm nicht werden kann. Mit strengem Blick gucken derweil diverse steinerne Chorherren von ihren an den Wänden stehenden Grabplatten auf das verdächtige Treiben der Möchtegern-Chorfrauen.  

Da ist zum Beispiel Weihbischof Heinrich, der mit seinen drei abgespreizten Fingern auf der größten Steinplatte besonders überheblich dreinschaut. Das war ein strenger Zeitgenosse, der die Reformation in Halberstadt blutig niederschlug. Mit singenden Frauen in seiner Kirche hatte der gewiss nichts am Bischofshut. Was für ein Witz des Schicksals, dass der humorlose Kerl jetzt dieses Kaffeekränzchen ertragen muss.

  Das alles ist Mirko Müller egal. Er ist seit Stunden damit beschäftigt, die notwendige Technik zu installieren. Dabei ist ihm die Vorfreude ins Gesicht geschrieben. Während ein Beamer und die großflächige Leinwand zur Textsicherheit bis in die letzte Reihe beitragen, ist mit dem Equipment der Begleitband für eine stimmungsvolle Basis gesorgt, die auch den allerletzten Nichtsänger in der musikalischen Spur hält.

 Um 15 Uhr ist die Kirche gut gefüllt, die Band beginnt. Gitarre und Bass sind heute mit Ukulele und drei Perkussionisten verstärkt. Das sorgt fast für karibisches Flair. Zur Auflockerung wird munter getanzt, gehüpft und gestampft. Arme fliegen durch die Luft, Kehlen werden mit langgezogenen Ihhhs und Ahhhs geschmeidig gemacht. Für mich klingt das wie im Urwald, aber egal, die Nichtsänger sind begeistert bei der Sache. Frei nach dem Motto: Die Ästheten bleiben uns gestohlen, wir singen für die Heiterkeit. Naja, vielleicht auch für die Heiserkeit, das wird sich spätestens am nächsten Morgen zeigen.   

„Ich bin eine heimliche Nichtsängerin, denn eigentlich sorge ich als Aufsichtskraft der Liebfrauenkirche dafür, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Aber wenn in der gefüllten Kirche alle tanzen und singen, dann bin ich voll dabei.”

Annerose Liesegang

Weiter geht es mit Udo Lindenberg. Ich staune: Da hatte ich Operetten- und Schlagerschnulzen, bestenfalls Volkslieder erwartet und nun entwickelt das Rentnerkränzchen leichtes Panik-Feeling. Vorsängerin Linda Müller intoniert die erste Strophe mit klarer Stimme und zieht auch unsichere Nichtsänger sicher durch den Song. Die Akustik der Kirche sorgt durch schwebende Klänge für Gänsehautmomente. Ihr warmer Hall verschluckt alle schrägen Töne und erteilt der Unvollkommenheit allzu quietschender oder krächzender Nichtsänger gnadenreiche Absolution.

Verrückt, eben noch gefangen im Hamsterrad alltäglicher Routine und jetzt entfesselte Glückseligkeit. Woher kommt das? Was ist hier das Geheimnis? Sicher, die Stimme, das Instrument des Jahres, ist der billigste Klangkörper unter der Sonne. Jeder hat ihn. Da ist keine teure Neuanschaffung nötig. Damit ist auch der bei Freizeitaktivitäten übliche Jahrmarkt der Eitelkeiten durch kostspieliges Tuning ausgeschlossen. Es sei denn, Mann strebt nach einer Whisky-Reibeisenstimme. Zudem ist nirgendwo in der Musik der Weg zur Emotion kürzer als über die Stimme. Doch die Stimme allein kann es nicht sein. Dann wären ja alle Duschen dieser Welt Orte der Glückseligkeit.

Von der Verkäuferin bis zur promovierten Akademikerin zähle ich 125 Nichtsänger: zwei Kinder, sieben Männer und 116 Frauen. Mit einem Altersdurchschnitt von wohlwollenden Ü50 ist die Sangeswut zweifelsfrei ein weiblich geprägtes Phänomen der reiferen Gesellschaft. Alle sind in ihrer Unvollkommenheit vereint. Die Gemeinschaft muss der Schlüssel sein.

Beate Handel, Ulrike Rönnebeck (v.l.): „Beate bombardiert wirklich alle Welt mit Werbung für dieses Event. Hier gibt es keine einzwängenden Konventionen, keinen Leistungsdruck, es regiert ungezügelte Freude am Singen.

 Die Nichtsänger als Selbsthilfegruppe gegen die tägliche Alltags-Einerlei-Routine? Dabei stehen sie in einer langen Tradition. Populär gesungen wurde in Halberstadt schon immer. Bereits im Mai 1845 fand hier ein deutschlandweit beachtetes Chorsängerfest statt. Prof. Kehr und seine Halberstädter Wagner-Festspiele stehen in dieser Tradition. Auch in der jüngeren Vergangenheit, in den 1960er bis 1980er Jahren gab es in jedem größeren Betrieb einen Chor. Da wurde geprobt, aufgetreten und sogar mehrstimmig gesungen. Freilich sind wir davon in der Liebfrauenkirche weit entfernt. Aber ganz sicher ging es auch diesen Chören nicht nur um kunstvollen Gesang, sondern um ein Bedürfnis nach entspannter Geselligkeit.

Nach „Es tönen die Lieder“ erklingt „Guantanamera“, gefolgt von „Don’t worry, be happy“ mit eigenem Text. Ein breites Repertoire, eine Liveband, Liedtexte auf großer Leinwand und eine ausgelassene Stimmung – das sind die Zutaten eines Trends, der seit einigen Jahren deutschlandweit Anklang findet. Ich frage Dana Toschner nach dem Erfolgsgeheimnis der Halberstädter Nichtsänger. Sie muss es wissen, hat sie doch den Chor gemeinsam mit Linda Müller 

ins Leben gerufen. „Wir proben nicht. Wir treten nicht auf. Wir wollen nicht besser werden. Wir arbeiten nicht auf ein Ziel hin. Stattdessen feiern wir das Unperfekte. Die Zwanglosigkeit ist das Geheimnis.“ 

Die Journalisten-Kollegin freut sich über mein verdutztes Gesicht und wischt mit einem erfrischenden Lachen meine Sprachlosigkeit beiseite. „Wir schenken den Leuten eine Stunde heile Welt und tun ganz nebenbei etwas gegen die Vereinsamung in der Gesellschaft. Vielleicht ist das heute wichtiger denn je.“ 

Die Idee, ein solches Projekt in Halberstadt umzusetzen, entstand beim „Lebendigen Adventskalender“ rund um den Domplatz im Dezember 2022. Vom gemeinsamen Singen mit wildfremden Menschen war sie so begeistert, dass sie die Musiktherapeutin Linda Müller fragte, ob sie Lust hätte, die musikalische Leitung des Chors der Nichtsänger zu übernehmen. Schnell wurde beiden klar, dass hier ein riesiges Potenzial schlummerte. „Es war, als hätten die Leute nur auf uns gewartet“, sagt Linda Müller. „Dass wir die Liebfrauenkirche nutzen dürfen, ist ein großes Glück. Ich arbeite im Kirchenvorstand mit. Man lässt uns für das Projekt, das Nichtchristen und Christen zusammenbringt, alle Freiheiten.“

Steffi Haubner: „Ich liebe meine Mama, und weil meine Mama den Chor der Nichtsänger liebt, lege ich als Wahl-Münchnerin meine Heimatbesuche gerne so, dass wir gemeinsam in vorderster Reihe singen.”

Zum ersten Treffen im Februar 2023 kamen etwa 60 Sängerinnen und Sänger. Zwei Jahre später, im Februar 2025, waren es 200. „Anfangs lief noch vieles chaotisch und improvisiert ab. Aber jetzt haben wir die richtige Technik“, blickt Linda Müller zurück. Über Fördermittel des Kirchenkreises und Spenden der Nichtsänger konnten der leistungsstarke Beamer und die XXL-Leinwand beschafft werden.

„Der Zuspruch und die Dankbarkeit der Leute sind umwerfend. Wenn ich durch die Sitzreihen blicke und die Begeisterung in den Augen sehe, dann ist das ungemein beflügelnd“, sagt Michaela Schilling, die mit Linda Müller und Dana Toschner im Orga-Team die Fäden in der Hand hält. „Nichts ist schöner, als andere Menschen glücklich zu machen“, begründet sie die Begeisterung für ihr Ehrenamt. Das motiviert auch den 85-jährigen Organisten Siegfried Hinsche oder den 14-jährigen Cellisten Samuel Müller, der gemeinsam mit Mutter Linda (Gitarre), Vater Mirko (Bass), und den Musikern Bernd Tangermann (Gitarre), Peter Filter, Maik Brennecke und Axel Graf (alle drei Percussion) die Band bildet.

„Marmor Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht“ – die Botschaft des letzten Lieds scheint durchaus auch für die Liebe zum Singen zu gelten. Während sich die Ohrwürmer der vergangenen Stunde einen munteren Streit über die Vorherrschaft in meinem Kopf liefern, strebe ich dem Ausgang zu. Durch die strahlenden Gesichter der Nichtsänger wirkt die schattige Liebfrauenkirche eine Spur heller, und ich bin allerbester Laune. Die alte Weisheit gilt: Wo man singt, da lass dich ruhig nieder (egal, wie Mann oder Frau singen). (Nicht)Sänger sind glückliche Menschen.

Selbst unser ernster Weihbischof wirkt eine Spur milder, und plötzlich fällt mir wieder ein, was die drei abgespreizten Finger bedeuten: Sie erteilen den Segen. Wie fein, die Chorfrauen genießen allerhöchste Fürsprache und Absolution. Ihr Gesang war doch zum Steinerweichen schön!

 Mein Blick fällt auf die übrigen gestrengen Chorherren. Während ihre Grabplatten der Ewigkeit entgegen wittern, feierten die Chordamen gerade den wundervoll-flüchtigen Augenblick. Das ist mir sympathisch. Beschwingt und beglückt verlasse ich die Liebfrauenkirche, für die ich ab heute einen neuen Namen habe: Liedfrauenkirche.