Martini - das optimistische Halberstadt-Magazin

Ein erhabenes Gefühl

Dr. Ralf Schachschneider hat sich sein ganzes Berufsleben lang mit Pflanzenforschung beschäftigt. Heute erforscht er nicht mehr die Erträge auf Getreidefeldern, sondern mit ebensolchem Eifer die Geschichte des Halberstädter Domes und des Domschatzes. Er ist einer von neun Gästeführern. Ein Job, der ihn staunen lässt.

Von Dana Toschner

Arbeit hat mich nie angestrengt“, sagt Ralf Schachschneider. Vielleicht ist das auch der Grund, warum er sich mit so viel Begeisterung daran machte, alle möglichen Publikationen über die Geschichte des Domes zu lesen, um Gästeführer zu werden. „Man muss demütig rangehen, sich intensiv einlesen und all die Zahlen auswendig lernen, die einen durch die Vergangenheit leiten. Denn nur wenn du die Fakten draufhast, kannst du dazu übergehen, Geschichte lebendig zu erzählen“, sagt er.

Wenn der Langensteiner mit den wachen, strahlend blauen Augen leichten Schrittes in den Dom spaziert, lässt sich sein Alter nicht erahnen. 78 Jahre alt ist der Mann, der locker für Mitte 60 durchgeht. Halten Wissensdurst und Neugier auf die Welt etwa jung? „Das mag sein“, meint er lachend. „Den Job als Gästeführer habe ich jedenfalls ganz bewusst angefangen, weil ich etwas Anspruchsvolles machen wollte. Ich hatte die Befürchtung, dass ich andernfalls senil werden könnte, ohne es zu bemerken. Mein Gedanke war: Wenn man hoch hinauf klettert, ist der Weg abwärts länger.“ 

Bis 2023 hat er noch voll gearbeitet. Mehr als 40 Jahre lang war Ralf Schachschneider bei der Nordsaat Saatzucht GmbH, die in Böhnshausen ihren Sitz hat und zu den führenden Unternehmen der Getreidezüchtung in Europa gehört. Als Chef für Forschung und Entwicklung arbeitete er zuletzt in Russland, wo er neue Abteilungen mit aufgebaut hat. Als er mit 76 Jahren beschloss, doch lieber aufzuhören, war nicht das Alter der Grund, sondern der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt. „Wir entwickelten dort ja Getreidesorten, und mit dem Getreide unterstützen wir letztendlich den aggressiven russischen Staat. Mit dem Beginn des Angriffskriegs geriet ich in einen Gewissenskonflikt. Ich wollte weg aus Russland.“

Der Ruhestand allerdings sollte nicht allzu ruhig werden. Als Ralf Schachschneider hörte, dass man in Dom und Domschatz Gästeführer sucht, empfand er das als reizvolle Aufgabe. „Hier verbinden sich historische, religiöse und philosophische Themen. Das finde ich spannend“, erklärt er seine Motivation. Fünf Monate nahm er sich Zeit, um sich in die Materie einzuarbeiten, er lernte wie einst zu Studienzeiten – nur waren seine Fachgebiete damals Biomathematik und Agrarwissenschaften, heute ist es das Mittelalter. Eine Erkenntnis gilt aber nach wie vor: „Je mehr man weiß, desto mehr Fragen entstehen.“ 

„Je mehr man weiß, desto mehr Fragen entstehen“

Nach der ersten Probeführung im Frühjahr 2024 war er mit sich selbst nicht zufrieden, doch Halberstadts Domschatz-Chefin Dr. Uta-Christiane Bergemann räumte seine Zweifel aus und ließ ihn den Gästeführer-Vertrag unterschreiben. „Er ist eine ganz wertvolle Bereicherung in unserem Angebot an Domführungen. Er macht das sehr überzeugend und kompetent!“, lobt sie. 

Schon eine Woche später führte Ralf Schachschneider ganz offiziell seine erste Gruppe. Mit jeder weiteren Führung fühlte er sich in seiner Entscheidung bestätigt. „Kirchengeschichte zu vermitteln ist wichtig, weil sie ein Teil unserer Kultur ist. Sie muss weitergegeben werden, und ich finde es viel schöner und lebendiger, wenn das ein Mensch macht anstelle einer Smartphone-App.“ 

Für seine Arbeit bekommt er ein kleines Honorar, das eher als Aufwandsentschädigung zu verstehen ist. Hin und wieder steckt ihm eine Reisegruppe noch einen Umschlag mit Geld und einem Dankeschön-Zettelchen zu. Eine nette Geste, doch darum geht es ihm nicht. „Der Lohn ist zu spüren, wie dir die Menschen 90 Minuten lang an den Lippen hängen“, beschreibt er. Nur die Fakten zu kennen, reiche dafür nicht. Wichtig sei es, die Stimme richtig einzusetzen und immer Blickkontakt zum Publikum zu halten, während er mit dem Rücken zum jeweiligen Ausstellungsstück steht, über das er gerade spricht. Seine Erfahrungen aus dem wissenschaftlichen Leben kommen ihm dabei zugute. „Ich habe hunderte Vorträge über die Pflanzenzucht gehalten und ein recht gutes Gefühl dafür entwickeln können, ob die Leute mitgehen oder gleich einschlafen. Das hilft mir jetzt, die Führung spannend aufzubauen.“ 

Im besten Fall gelingt es ihm, dass ein Funken seiner Begeisterung auf die Gäste überspringt, und die Jahrhunderte alten Schatzstücke die Besucher ebenso zum Staunen bringen wie ihn selbst. „Es ist immer wieder ein erhabenes Gefühl, im Dom zu stehen“, sagt er und erzählt vom Vorgängerbau, der hier einst stand, von den Merkmalen der gotischen Architektur, den Aposteln im Hohen Chor und vom Halberstädter Bischof Konrad von Krosigk. Dessen steinernes Abbild steht etwas eingestaubt und unauffällig am Rand des Kirchenschiffs. Die Figur ist eine wunderbare Überleitung für den Spaziergang vom Dom in den Domschatz, denn jener Bischof hatte Anfang des 13. Jahrhundert einige sehr kostbare Stücke beim Kreuzzug in Konstantinopel erbeutet und brachte diese nach Halberstadt. Heute kann man sie in der Schatzkammer bewundern, die neben dem Gewändersaal zu Ralf Schachschneiders Lieblingsorten zählt. 

Obwohl der Gästeführer über die Reliquien, die mittelalterlichen Gewänder und Teppiche jede Menge erzählen kann, steht er manchmal auch ganz still und andächtig davor. Durch seinen Job hat sich ihm eine neue Welt erschlossen. „Ich sehe jetzt Dinge, die ich vorher übersehen hätte – und das ist das wirklich Wunderbare!“