Martini - das optimistische Halberstadt-Magazin

Bachs Erklärbar

Johann Sebastian Bach gilt als musikalisches Denkmal, dessen wahre Größe nur wenigen zugänglich ist. Der Bach-Forscher Michael Maul holt mit ansteckender Begeisterung und unermüdlicher Energie das Denkmal vom Sockel und bringt es einer breiten Öffentlichkeit nahe. Für sein Buch „J.S. Bach – Wie wunderbar sind deine Werke“ wurde er mit dem Gleim-Literaturpreis geehrt. Er sprach mit MARTINI-Autor Jörg Loose über seine Leidenschaft für das Universum Bach.

Herr Maul, Sie haben das Privileg, sich rund um die Uhr mit dem vielleicht Größten zu befassen, was der menschliche Geist je hervorgebrachte – dem Werk von Johann Sebastian Bach. Für eine Frucht dieser Auseinandersetzung erhielten Sie nun den Gleim-Literaturpreis. Sind Sie ein glücklicher Mensch? 
Aber ja! Und jetzt mit dem Preis vielleicht noch ein bisschen mehr. Ich muss wirklich sagen: Ich lebe wie die Made im Speck, weil ich das große Glück hatte, meine Leidenschaft zum Beruf machen zu können. 

Bach und Gleim verbindet eine Parallele. Beide standen im Dienst der Kirche. Während Gleim heute als Aufklärer gilt, sieht man Bach – der sein Wirken unter das Motto ‚soli deo gloria‘ stellte – eher im Kontext eines tiefen Glaubens. Kann Bach trotzdem als Aufklärer gelten? 
Das ist eine schwierige Frage. Ich würde sie auf zwei Ebenen beantworten. Zum einen hatte Bach, der Thomaskantor, mit den Protagonisten der Aufklärung in Leipzig eher wenig am Hut. Vielleicht war ihm deren Gedanke, sich die Welt selbst zu erklären, statt bedingungslos zu glauben, sogar ein bisschen suspekt. Auf der anderen Seite war Bach als Künstler jemand, der sich von allen Zwängen der Kompositionslehre löste. Er hat sich aus den Fesseln der Tradition befreit, ohne sie zu verleugnen. In diesem Sinn war er ein Aufklärer, auch wenn er sich selbst wohl nie so bezeichnet hätte. Seine Musik ist weder altmodisch noch modern – Bach ist einfach Bach.  

Bach gilt als Großmeister der Fuge. Verschiedene musikalische Themen treten in einen gleichberechtigten Dialog, verändern sich, passen sich an und finden schließlich zu vollkommener Harmonie. Ist das nicht ein Sinnbild für Aufklärung – oder vielleicht sogar für Demokratie? 
Unbedingt! Diese absolute Selbstständigkeit der Stimmen, dieser Dialog auf Augenhöhe – das passt wunderbar zu den Prinzipien von Demokratie und Gleichberechtigung. Es bedeutet ja nicht nur, dass jeder gleich laut reden darf, sondern auch, dass wenn der eine spricht, sich der andere zurücknimmt und zuhört. Man arbeitet sich gemeinsam an einem Thema ab, es darf auch mal kontrovers zugehen, aber am Ende finden alle wieder zueinander. Das ist ein großartiges Sinnbild.
Trotzdem würde ich Bach rückblickend nicht zum Erfinder der Demokratie stilisieren. Er lebte im tiefsten Feudalismus, und ich glaube, die einzige Instanz jenseits seiner eigenen musikalischen Urteilskraft, die er wirklich akzeptiert hat, war wohl der liebe Gott. Aber: Bachs Musik führt uns heute wunderbar vor Ohren, wie Dialoge auf Augenhöhe funktionieren kann – musikalisch wie menschlich. 

In Ihrem Buch führen Sie, wenn Fakten fehlen, imaginäre Zwiesprache mit Bach. Das eröffnet Raum für Thesen, führt aber auch ins Spekulative. Ist das in einem wissenschaftlichen Buch ein zulässiges Mittel? 
Selbstverständlich! Wenn wir über Bach nur das schreiben würden, was wir ganz sicher wissen, wären die Bücher sehr dünn. Wir haben über tausend Werke von ihm, aber über den Menschen Bach wissen wir erschreckend wenig. Hypothesen gehören deshalb zur Bachforschung seit es sie gibt. Mein Kunstgriff, Bach direkt anzusprechen, war einerseits ein Stilmittel, andererseits eine kleine Arbeitserleichterung. Ich wollte nicht – wie es Wissenschaftler gewöhnlich tun – in endlosen Konjunktiven abwägen, sondern meine Fragen offen formulieren. Und ehrlich gesagt: Kein Bachforscher kommt ohne Annahmen aus. Schon bei grundlegenden Fragen, etwa wann die Matthäus-Passion uraufgeführt wurde, wie lange er als Jugendlicher in Lüneburg blieb, oder ob er die Kunst der Fuge als vollendet ansah, tappen wir im Dunkeln. Es gibt einfach zu viele Geheimnisse. Und genau das macht ihn so faszinierend. 

In Halberstadt wird John Cages Orgelstück  Organ²/ASLSP über 639 Jahre aufgeführt. Wie würden Sie Bach dieses Projekt erklären? 
Ich würde sagen: Lieber Herr Bach, Sie und Ihre Kollegen haben hier in Mitteldeutschland über Jahrhunderte hinweg so großartige Musik geschaffen, dass die Menschen bis heute sensibel für Klang geblieben sind. Vielleicht ist genau das der Grund, warum gerade hier solche Riesen-Projekte durchgezogen werden.
Natürlich ist das Stück von Cage – gemessen an der unvorstellbaren Aufführungszeit – nicht gerade reich an harmonischen Überraschungen oder melodischen Wendungen. Aber wenn es dazu führt, dass Menschen genau hinhören, sich für die Musik interessieren und deshalb vielleicht sogar den Weg nach Halberstadt finden, dann hat es doch seinen Zweck erfüllt. Am Ende wollen wir doch alle das Gleiche: Menschen für Musik begeistern.

Bach hinterließ keine Oper, war aber ein Meister der musikalischen Emotion, der sich nicht scheute, seine Musik immer wieder neu zu verwenden. Juckt es Sie nicht, seine beste Musik zu einer Art Bach-Oper zusammenzustellen? 
Das juckt mich tatsächlich schon lange! Beim letzten Bachfest gab es ein Projekt, das hieß „Bachs Faust“. Ich hatte mir Goethes Faust I vorgenommen und überlegt, wie Bach diesen Stoff mit Musik aus seinem eigenen Œuvre ausgestaltet hätte. Das Ergebnis war ein spannender Dialog zwischen Goethe und Bach, aufgeführt in Auerbachs Keller – und es hat wunderbar funktioniert. Die Idee einer Bach-Oper ist nicht vom Tisch. Die Frage ist nur: Macht man daraus eine Nummernrevue auf der Basis des Bachschen Parodieverfahrens oder findet man einen originelleren Ansatz, ohne Bach zu entstellen? Ich bin da selbst noch auf der Suche. Aber ich gehöre bestimmt nicht zu denen, die behaupten, Bach hätte nie eine Oper geschrieben – sie hat sich einfach nicht ergeben. 

Viele Werke Bachs gelten als verschollen oder sind nur textlich überliefert. Wäre für Sie die Möglichkeit, eine KI mit allem verfügbaren Bach-Wissen zu füttern, um verlorene Werke zu rekonstruieren oder gar neue zu erschaffen Verlockung oder Blasphemie? 
Blasphemie ist das sicher nicht. Es zeigt ja, wie sehr wir Bach lieben, dass wir uns nicht damit abfinden wollen, dass manches verloren ist. Solche Versuche, Verschollenes zu rekonstruieren, gab es schon immer – jetzt eben auch mit technischen Mitteln. Aber ich glaube nicht, dass eine KI das wirklich erreichen wird. Sie kann ja nur auf der Basis des bereits Vorhandenen arbeiten. Aber ein Komponist wie Bach überrascht uns ständig. Wenn man einer KI eine halbe Bach-Fuge gäbe und sie aufforderte, sie fortzusetzen, käme bestimmt etwas heraus, das nach Bach klingt. Aber es würde nicht überraschen. Und dieses Überraschungsmoment, das hatte der echte menschliche/göttliche Bach in jedem Takt. 

Bach wird heute weltweit von Gläubigen wie Atheisten über kulturelle Schranken hinweg verehrt. Gleichzeitig war er zu Lebzeiten in Leipzig umstritten.Warum? 
Ich glaube, ein Teil seines Publikums war schlicht überfordert – vielleicht sogar manche seiner Musiker. Bachs Musik ist komplex, fordernd, vielschichtig. Selbst die frühen Bach-Verehrer im 19. Jahrhundert sagten: Das wird nie etwas für die breite Masse. Man begreift diese Musik erst, wenn man sie immer wieder hört. Deshalb kam der große Ruhm wahrscheinlich erst im 19. Jahrhundert, als sie im gedruckt und wirklich häufiger aufgeführt wurde. In Leipzig war Bach zu Lebzeiten zwar allgegenwärtig, aber er war kein Diplomat. Er hat sich nichts gefallen lassen, war vielleicht auch nicht Willens oder in der Lage, seine Anliegen gegenüber der Obrigkeit charmant zu verpacken. Seine Briefe sind verschachtelt und oft spröde – ganz anders als seine Musik. Und doch: Der Stadtrat hat ihn, trotz all der gegenseitigen Gehässigkeiten, die dokumentiert sind, nie entlassen. Man ahnte wahrscheinlich doch, dass er ein großer Musiker war, aber leicht hat man es ihm deshalb auch nicht gemacht. 

Bei der Verbreitung von Bachs Werk haben Sie den staubtrockenen wissenschaftlichen Elfenbeinturm verlassen und beschreiten als „Erklärbär“ zum Beispiel mit dem launigen Podcast „Die Bach-Kantate mit Maul und Schrammek“ neue, populäre Wege. Nimmt der Elfenbeinturm Sie noch ernst? 
Wir haben jetzt vielleicht neue Wege beschritten und verbergen auch nicht unsere Begeisterung für Bach, aber wir stehen fest auf wissenschaftlichem Grund. Wir nutzen jedoch bewusst ein Vokabular, das es ermöglicht, uns ohne musikalische Vorkenntnisse zu folgen. Wir wollen, dass jeder Mensch die Chance bekommt, einen Zugang zu Bachs Musik – speziell auch zu den Kantaten – zu finden, der über ein einfaches „gefällt mir oder gefällt mir nicht“ hinausgeht. Ob man uns das im Elfenbeinturm übelnimmt? Ich will das mal diplomatisch beantworten: Die Rückmeldungen aus dieser Richtung gehen gegen Null. Auf der anderen Seite bekommen wir sehr viele Rückmeldungen vom Rest der Welt, und das ist überwiegend große Dankbarkeit.

Musik ist kein Luxus … sie macht Menschen klüger, empathischer, kreativer.

Können Sie Bachs Musik noch unbefangen genießen – oder liegt der Musikwissenschaftler immer auf der Lauer? 
Das ist abhängig von der Tagesform. Aber ja, ich kann das! Bach kann man auf so viele Arten hören. Mal versucht man, das große Ganze zu erfassen, mal konzentriert man sich nur auf eine einzelne Stimme, vielleicht die Bratschen. Und manchmal schalte ich mein analytisches Gehirn bewusst aus – das klappt besonders gut nach 21 Uhr, mit einem Glas Rotwein. Ich versuche dann so zu hören, als ob ich die Musik zum ersten Mal erlebte. So, wie Bachs Zeitgenossen sie gehört haben. Das gelingt nicht immer, aber manchmal meine ich, diesen Moment zu spüren – und das ist dann pures Glück. 

Ihre Tochter trägt denselben Namen wie Bachs zweite Frau: Magdalena. Können Sie Beruf und Privat noch trennen?
(lacht) Das ist tatsächlich schwierig. Wenn man sein Hobby zum Beruf macht, verschwimmen die Grenzen. Das hat viele schöne Seiten, aber man findet oft genug den Ausschaltknopf nicht  – was für die Familie eine Herausforderung ist. Ich merke allerdings, dass ich gelassener werde. Vielleicht, weil ich als Forscher und Festivalleiter schon vieles erreicht habe. Das hilft, und es kommt allen zugute. 

Sie schreiben in Ihrem Buch von „der einen Arie“, die Sie auf die berühmte einsame Insel mitnehmen würden. Verraten Sie uns Ihren persönlichen Liebling? 
Stellen Sie mir diese Frage zehn Mal und Sie bekommen zehn unterschiedliche Antworten. Aber ein Stück begleitet mich schon lange: die Tenorarie „Bleibt, ihr Engel, bleibt bei mir“ aus der Kantate „Es erhub sich ein Streit“ BWV 19. Sie ist eine Hymne für und zugleich eine Bitte an den Schutzengel, uns auf unserem Weg – und auch auf unserer letzten Reise – zu begleiten. Die Trompete spielt dabei wortlos die Choralmelodie „Ach Herr, lass dein lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen.“ Das ist Musik, die einen wirklich in die Arme nimmt. Wenn ich nur ein Stück mitnehmen dürfte, wäre es wohl dieses. Es sei denn, ich dürfte nachverhandeln – dann würde ich die komplette Matthäus-Passion als ein Stück deklarieren. (lacht) 

Und wenn Sie auf dieser Insel Bach selbst träfen – und nur eine Frage frei hätten?
 Ich wäre sprachlos. Wenn ich mich wieder gefasst hätte, würde ich ihn bitten, mir etwas vorzuspielen – vielleicht das Wohltemperierte Klavier oder die Goldberg-Variationen. Dann müsste er ein, zwei Stunden für mich musizieren – und ich bekäme sehr viel mehr Antworten, ohne eine einzige Frage zu stellen.  

Worauf dürfen sich Ihre Freunde und Fans als Nächstes freuen? 
Da gibt’s einiges! Zum einen gehen wir mit unserem Podcast „Die Bachkantate mit Maul und Schrammek“ bald auf Tour und schauen vielleicht auch in Halberstadt vorbei. Dann natürlich das Bachfest selbst – im Juni mit mehr als 200 Veranstaltungen in elf Tagen. Diesmal haben wir das Prinzip der guten alten Radiohitparade auf Bachkantaten übertragen: Über 7.000 Menschen weltweit haben abgestimmt, und wir spielen die Top 50 – von Platz 50 bis 1. Und schließlich: unser neues Augmented-Reality-Projekt. Im Bosehaus in Leipzig tritt Bach höchstpersönlich auf – als digitaler Avatar, der musiziert, erzählt, sich bewegt. Es ist so real, dass man die Füße einzieht, wenn er an einem vorbeiläuft. Auch hier planen wir, damit auf Tour zu gehen. 

Herr Maul, zum Schluss noch ein Blick in die Gegenwart: Sie haben wiederholt Ihre Sorge um das „Musikland Deutschland“ geäußert. Was treibt Sie da um? 
Was mir wirklich Sorgen macht, ist der Rückgang des Musikunterrichts. Im 16. Jahrhundert legten Luther und Melanchthon fest, dass jedes Kind vier Stunden Musik pro Woche haben sollte – das hat das musikalische Niveau in Mitteldeutschland enorm geprägt. Heute sind wir bei einer Stunde, die oft genug ausfällt. Wenn eine Generation heranwächst, die nie ein Konzerthaus von innen gesehen hat, dann wird es schwer, Kulturförderung noch zu rechtfertigen. Musik ist kein Luxus, sie ist Bildung im besten Sinne – und sie macht Menschen klüger, empathischer, kreativer. Das dürfen wir nicht verlieren.